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Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge

Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge

Titel: Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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unnötig, nervös zu sein! Es würde sowieso niemand kommen. Man hatte ihr einen ungünstigen Termin gegeben – jeder vernünftige Mensch würde um diese Zeit essen gehen – und einen der unattraktivsten, abgelegensten Säle noch dazu. Sie würde sich glücklich schätzen können, wenn sie nicht vor völlig leeren Stuhlreihen stand.
    Wobei sie sich das in manchen Momenten sogar wünschte. Jetzt gerade zum Beispiel.
    Sie hatte nach ihrer Rückkehr nach Harvard aufgehört, sich um akademische Konventionen zu scheren. Sie hatte keine Seminare mehr belegt, die in ihren Augen nur Beschäftigungstherapie waren. Was sollte sie mit irgendwelchen Scheinen? Stattdessen hatte sie an einer Polizeihochschule einen Gastkurs in Forensik und allgemeiner Kriminalistik absolviert. Sie sei begabt, hatte ihr Professor gemeint; ob sie eine Laufbahn als Forensikerin nicht reize? Nein, hatte sie ihm gestanden. Und sich anschließend auf den Weg gemacht, sämtliche Fundstücke, auf denen das aktuelle paläohistorische Weltbild beruhte, persönlich in Augenschein zu nehmen und sie, wenn möglich,auch selber zu untersuchen. Das war ein ehrgeiziges, aber kein unmögliches Projekt: Immerhin gab es längst zahlenmäßig mehr Paläoanthropologen als Fundstücke.
    Kern ihres Vorhabens war, die Arbeitsweise eines Staatsanwalts auf die Beweisführung der Paläoanthropologie anzuwenden. Für jedes einzelne Fundstück arbeitete sie heraus, welche der Schlussfolgerungen, die man daraus gezogen hatte, hieb- und stichfest waren und welche auf tönernen Füßen standen oder sogar auf unbewiesenen Annahmen beruhten. Sie versuchte sozusagen eine Gerichtsverhandlung für jeden einzelnen Schädelknochen abzuhalten, jeden einzelnen Vormenschenzahn, jedes Stück Beckenschaufel und jeden sonstigen Knochen, den man je irgendwo auf der Welt ausgegraben und einem Vor- oder Frühmenschen zugeordnet hatte.
    Freunde schuf sie sich damit natürlich nicht. Im akademischen Leben spielte es nun einmal auch eine entscheidende Rolle, wer etwas sagte, und nicht nur, was er sagte. Die unbewiesene Hypothese eines renommierten Gelehrten hatte mehr Gewicht als die beweisbare Behauptung eines Nobodys ohne Titel, Studium und vorzeigbare Publikationsliste. Viele etablierte Forscher fühlten sich durch Charlottes Projekt persönlich angegriffen. Bis jetzt hatte keine der großen wissenschaftlichen Zeitschriften, in denen man veröffentlichen musste, um etwas zu gelten, einen ihrer Artikel angenommen.
    Dabei hätte sie Erstaunliches zu erzählen gehabt. So hatte sie etwa Gelegenheit bekommen, den sogenannten Broken Hill -Schädel zu untersuchen, der im Naturhistorischen Museum in London lag. Er galt als gut erhaltenes Fossil des Homo rhodesiensis , einer Zwischenform zwischen dem Homo heidelbergensis , dem gemeinsamen Vorfahren von Neandertalern und Jetztzeitmenschen, und dem frühen Homo sapiens . Der Schädel wurde auf ein Alter zwischen 125 000 und 300 000 Jahren datiert und wies ein Hirnvolumen von dreizehnhundert Kubikzentimetern auf, was nicht mehr weit vom Hirnvolumen eines modernen Menschen entfernt war.
    Das Bemerkenswerteste war jedoch, dass der Schädel ein Einschussloch aufwies.
    Das Loch an der rechten Seite des Schädels war bekannt und auf den meisten veröffentlichten Fotos gut zu erkennen. Nach der klassischen Lehre wurden solche Löcher von Raubtieren verursacht oder waren Folge von Stürzen. Doch wenn man sich die Knochen unter einem Mikroskop ansah und kurz zuvor den Einführungskurs Forensik der Boston Police Academy absolviert hatte, dann sah es verdammt noch mal aus wie das Eintrittsloch eines Projektils.
    Vor mindestens hundertdreißigtausend Jahren.
    Charlotte hatte den für Einschüsse typischen, sich nach innen erweiternden Knochenkrater ausgemacht und die spinnennetzartige Ansprengung des umliegenden Knochens, die auch im fossilierten Zustand noch zu erkennen war. Hinzu kam Folgendes: Was man auf Abbildungen dieses Schädels selten sah, war, dass auf der dem kleinen Loch gegenüberliegenden Seite große Teile des Knochens fehlten. Das war bei Schädelresten zunächst nichts Ungewöhnliches: Da ein Schädel hohl war und normalerweise Gestein auf ihm lastete, wenn das betreffende Lebewesen erst einmal tot und vergraben war, war eine Beschädigung fast nicht zu vermeiden. Doch an etlichen Stellen des Bruchrandes hatte Charlotte Spuren entdeckt, die einen Kriminalisten vor Gericht hätten schwören lassen, dass der Schädel von innen herausgesprengt worden

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