Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge
Lamita?«
»Bhalo.« Die Kleine drückte sich noch fester an Brenda, sah kurz voller Dankbarkeit zu ihr hoch. Ja. Es war offensichtlich, dass es ihr gutging.
Brenda sah Charlotte mit weit aufgerissenen Augen an. »Du sprichst Bengali? Seit wann das?«
Charlotte versuchte sich zu erinnern. »Ich glaube, ein paar der Gärtner in unserem Haus in Delhi waren Bengalen. Mir ist, als hätte ich die Sprache immer nur im Garten gehört.«
»Dich schickt der Himmel. Wir haben solche Probleme, uns mit dem Kind zu verständigen, du glaubst es nicht. Sie versteht mich, aber ich verstehe sie nicht! Wenn ihr was fehlt, krieg ich nicht mal aus ihr raus, wo es ihr wehtut. Es ist, als hätten wir ein Haustier! «
Charlotte betrachtete Lamita. Das Mädchen wirkte tatsächlich wie scheues Wild, wie ein Wesen, das lange Zeit schlecht behandelt worden war und viel und stumm gelitten hatte. »Ich bin ja eine Weile da. Vielleicht kann ich ein bisschen mit ihr reden.«
»Unbedingt.« Brenda drehte sich zu ihrer Adoptivtochter herum, sah sie an. »Möchtest du was essen? Ein Stück Kuchen? Cake? «
Lamita nickte wortlos und mit großen Augen.
» Yes? Sag es bitte.«
»Yes« , flüsterte das Kind mit einem so furchtsamen Ausdruck im Gesicht, als sei es jedes Mal bestraft worden, wenn es etwas gesagt hatte.
»Inzwischen wird mir schlecht, wenn ich irgendwo T-Shirts im Sonderangebot sehe«, erzählte Brenda, während Lamita neben ihr das Kuchenstück vertilgte. »Ein T-Shirt für einen Dollar – wer kann daran irgendwas verdienen? Derjenige, der es genäht hat, ganz bestimmt nicht. Ich kann überhaupt keine billigen Klamotten mehr kaufen. Ich sehe jetzt hinter jedem Hemd und jeder Hose ein Kind wie Lamita, das von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang in einem stickigen Raum hockt und sich die Finger wund arbeitet.«
»Ich dachte, die Näherei sei pleitegegangen?«
»Ja, die eine! Aber was meinst du, wie viele solcher Nähereien es dort noch gibt? Und andere Firmen, die irgendwas anderes machen, nach demselben Prinzip? Hunderttausende!«
Charlotte musste an Hiroshi denken und an dessen Plan, die Armut auf Erden abzuschaffen und stattdessen Wohlstand für alle zu schaffen, durch Roboter, die ihrerseits Roboter bauten … Es mochte ein völlig durchgeknallter Plan sein, aber wenigstens war er gut gemeint.
Und vielleicht war der Plan auch gar nicht so durchgeknallt. Sie betrachtete Lamita und fragte sich, wie viele solcher Kinder in diesem Moment irgendwo unter unsäglichen Bedingungen schuften mochten, nur damit Menschen in reichen Ländern etwas zu kaufen hatten.
Der Burntwood Lake lag weit im Norden der kanadischen Provinz Saskatchewan, mehr als fünfzig Kilometer von der letzten ausgewiesenen Straße entfernt, und selbst die war eher von der Sorte, die ein Großstädter nicht mehr als solche erkannt hätte. Man brauchte einen guten Geländewagen und eine gehörige Menge Ortskenntnis, um den See überhaupt zu finden, und es gab wenig Leute, die beides hatten.
So war der See das Refugium einiger weniger, die es so weitim kalten Norden aushielten und die Ruhe und Einsamkeit genossen. Manche von ihnen hatten sich in den Wäldern ringsum Hütten gebaut, von denen kein Amt etwas wusste. Wenn sich hier einer seinen eigenen Schnaps brannte – wen störte das? Ein Schnaps tat gut nach einem Tag, den man angelnd auf dem See verbracht hatte.
Doch so abgelegen der Ort auch war: In einer der Hütten stand eine Webcam, über die man den nordöstlichen Teil des Burntwood Lake und die kleine Insel darin jederzeit per Internet beobachten konnte. Ein Student, der sich in Internetforen NorthernLight nannte, hatte sie installiert, zusammen mit einer Anlage aus Solarzellen und Batterien, die den zugehörigen Computer mit Strom versorgte, und einer Richtfunkantenne, die über ein Gegenstück am Nordrand des Grass River Provincial Parks die Verbindung ins Internet herstellte. Ein Onkel, der in dem bei Cranberry Portage gelegenen Park arbeitete, hatte ihm ermöglicht, die zweite Antenne zu montieren und unauffällig ans Telefonnetz der Parkverwaltung anzustöpseln.
NorthernLight studierte Informatik in Winnipeg und liebte es, jederzeit nachsehen zu können, was sich auf »seinem« See tat. Und er war viel zu stolz auf seine Installation, als dass er die betreffende Website mit einem Passwort gesichert hätte. Die ganze Welt sollte an seinem Werk teilhaben.
Das war es, was das Schicksal des Burntwood Lake in Nord-Saskatchewan besiegelte.
Hiroshis
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