Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge
dekorierten Eisgebirgen, denen sie mit schmalen Löffeln zu Leibe rückten, erzählten sie einander, wie es ihnen in der Zwischenzeit ergangen war.
Zuerst musste Charlotte von ihren Abenteuern in Russland erzählen. Doch obwohl sie nicht glaubte, dass unter den anderen Gästen amerikanische oder russische Agenten saßen und sie überwachten, fühlte sie sich in der relativen Öffentlichkeit des Lokals nicht frei genug, um zu berichten, was tatsächlich passiert war. Und merkwürdigerweise hatte sie auch gar nicht mehr das Bedürfnis, andere damit zu belasten. In Reykjavík war sie fast geplatzt, hatte regelrecht darauf gebrannt, es loszuwerden … doch nun, zurück im Gleichlauf des alltäglichen Lebens, das immer noch so war, wie es immer gewesen war, schien ihr das, was sie erlebt hatte, viel zu extrem, zu fantastisch, als dass sie davon hätte erzählen wollen. Es kam ihr auch, je mehr Zeit verging, zunehmend unmöglich vor, jemandem vermitteln zu wollen, wie es gewesen war . Niemand, der nicht dabei gewesen war, konnte es wirklich verstehen. Manchmal kam ihr das Geschehene im Rückblick selber absolut unglaubwürdig vor; wie die Erinnerung an einen schlimmen Traum, nicht wie etwas Wirkliches.
Also erzählte sie Brenda vorwiegend von Dingen wie ihrer komplizierten Anreise, den Marotten Morleys und wie es war, in der durchdringenden Kälte des Polarkreises zurechtzukommen. Und schließlich, ohne in Details zu gehen, dass Leon ums Leben gekommen war und es eine lange Untersuchung des Vorfalls gegeben hatte.
»Aber wieso in Reykjavík?«, wunderte sich Brenda, doch als Charlotte daraufhin nur mit den Schultern zuckte, ließ sie die Frage fallen und gestand, erwartet zu haben, dass sie und Adrian als Paar zurückkehrten. »Irgendwie hatte ich immer das Gefühl, er steht auf dich. Und dass ihr beide ein hübsches Paar abgäbt.«
Charlotte stocherte in den unbezwingbaren Vanilleeismassen am Grund ihres Glases und musste an Leon denken und wie männlich er in seinem Parka ausgesehen hatte. »Adrian? Nein. Er hat sich benommen wie ein großer Bruder, mehr nicht. Und ich glaube nicht, dass er zu schüchtern ist.«
»Vielleicht ist er schwul?«
Charlotte überlegte. Auch das kam ihr wenig glaubhaft vor. »Irgendwie war da eben nichts. Vielleicht lebt er nur für die Klimatologie?«
Anschließend erzählte Brenda von ihrem Umzug, von all den kleinen Merkwürdigkeiten des Lebens in Argentinien, an die sie sich immer noch nicht gewöhnt hatte, und wie Lamitas Adoption abgelaufen war. »Ohne Pari wären wir völlig aufgeschmissen gewesen. Er hat uns zu den richtigen Behörden geschleppt, hat uns gesagt, wann wir einen Geldschein in unseren Pass legen müssen und so weiter … Zweimal mussten wir nach Dhaka fliegen, ehe wir sie mitnehmen durften. Zum Glück haben wir ein Kindermädchen, das mit Jason gut zurechtkommt, seither sind wir ein bisschen flexibler als früher.«
»Und wie kommt sie hier zurecht?«
Brenda wiegte den Kopf. »Na ja. Es sind erst ein paar Wochen, ich denke, da kann man schwer schon was sagen. Sie spricht nur Bengali, das ist zum Beispiel ein Problem, und … Ich hoffe, wir schaffen es.«
»Bestimmt«, sagte Charlotte und meinte es so.
Schließlich wurde es Zeit aufzubrechen. »Freundinnenzeit vorbei für heute«, erklärte Brenda melancholisch. Sie nahmen wieder ein Taxi. »Ich trau mich nicht, hier selber Auto zu fahren. Wahrscheinlich werd ich mich nie trauen. Wie die fahren, schau dir das an! So was wie Verkehrsregeln betrachten die doch höchstens als Empfehlungen, oder?«
Als sie ankamen, tauchte Jason zur Begrüßung auf, verweigerte sich jedoch einem Kuss auf die Wange und verschwand beleidigt, als ihn Charlotte auf Spanisch begrüßte. Tom war noch nicht da. Brenda zeigte ihr das Gästezimmer, die wichtigstenRäume des Hauses und den Garten, dann setzten sie sich auf einen Kaffee in die Küche.
Dort ließ sich irgendwann auch das Mädchen blicken. Scheu, aber neugierig lugte ein schmales, dunkelhäutiges Gesicht um die Ecke, das sofort wieder verschwand, als Charlotte hinsah. Doch schließlich siegte die Neugier: Die Kleine huschte herein, dicht an der Wand entlang, versteckte sich hinter Brenda, die schmerzlich lächelnd den Arm um sie legte, und nahm die Besucherin aus dieser geschützten Position näher in Augenschein.
Charlotte beugte sich vor. »Tomar nam ki?«
Das magere kleine Mädchen blinzelte erstaunt, dann flüsterte es: »Lamita. Amar nam Lamita.«
»Kemon atscho,
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