Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge
ihr Schwächegefühl, ihre Ängste. Es gab nur den Brief und die Worte, die sie schrieb, korrigierte, ausstrich und neu schrieb.
In diesen Stunden selbstvergessener Arbeit veränderte sich etwas in ihr. Irgendwann sah sie auf und verspürte plötzlich eine nie gekannte Ruhe. Erst horchte sie verwundert, weil ihr so war, als habe die ganze Zeit irgendwo leise eine Maschine gebrummt, die nun auf einmal still war. Aber dann begriff sie, dass da nie eine Maschine gewesen war. Sie selber war still geworden, zum ersten Mal in ihrem Leben.
Sie schaute umher, betrachtete das Fenster, den Holztisch, an dem sie saß, das Bett und die handgenähte Decke darauf. Alles war einfach da. Gegenstände, die jemand einmal gemacht hatte. Sie waren vor ihr da gewesen, und sie würden nach ihr noch da sein.
Sie, Charlotte Malroux, würde sterben. Es war, wie es war. Ihr Weg würde demnächst enden. Und alles in allem hatte sie nichts dagegen, wenn er hier endete, in Buenos Aires.
Sie würde keine Chemo mehr machen. Sie würde einfach die Tage leben, die ihr noch blieben.
Als Charlotte mit dem fertig übersetzten Brief zu Brenda ins Wohnzimmer kam, blickte die sie überrascht an, schien die Veränderung zu sehen, die mit ihr vorgegangen war.
»Würdest du mir bitte helfen«, bat Charlotte, »ein Zimmer irgendwo in der Stadt zu finden?«
Sie einigten sich schließlich auf Belgrano. Belgrano war ein sicherer Stadtteil für eine alleinlebende Frau und nicht weit von Núñez entfernt, wo Brenda und Tom wohnten; wenn sie irgendeine Art von Hilfe brauchte, konnte einer der beiden im Nu bei ihr sein. Das war sozusagen Brendas Bedingung, Charlotte ziehen zu lassen.
Sie fand ein Zimmer im Haus eines älteren Ehepaars, das sonst an Studenten vermietete. Die Frau stammte aus Deutschland und freute sich über die Gelegenheit, ihr Schulfranzösischanzuwenden, sah aber bald ein, dass es besser funktionierte, wenn sie bei Spanisch blieben. Das Haus lag an einer ruhigen, von Bäumen gesäumten Straße, weit genug von der Avenida Cabilda entfernt, um nichts von dem Trubel und Verkehrslärm dort mitzukriegen, und doch nahe genug, dass Charlotte alle Einkäufe würde zu Fuß erledigen können; einstweilen zumindest noch und wenn sie sich auf das Wichtigste beschränkte.
Aber das wollte sie sowieso: sich auf das Wichtigste beschränken.
Das Schönste war, dass ihr Zimmer im Erdgeschoss lag und eine eigene Terrasse hatte, von der aus sie auf den im Zustand zunehmender Verwilderung befindlichen, geheimnisvoll aussehenden Garten schauen konnte. Hier, so beschloss sie, würde sie viel von der Zeit verbringen, die ihr noch blieb.
Das Zimmer war möbliert, und die Möbel waren größtenteils in Ordnung. Trotzdem gefielen ihr einige Stücke nicht – der klobige schwarze Eichenschrank, der nicht zum Rest passte; der zu schmale Schreibtisch; der Spiegel mit dem aufdringlichen Goldrahmen – und sie überredete ihre Vermieter, ihr zu erlauben, sie auf eigene Kosten durch andere zu ersetzen. Sie streifte einige Tage lang durch Möbelgeschäfte, Antiquariate und über Märkte, besichtigte, erwog, überlegte, und zu ihrem eigenen Erstaunen schlauchte sie das nicht, sondern wirkte regelrecht belebend. Sie ließ antransportieren und fortschaffen, umgarnte Spediteure, damit sie ihr den luftigen, weiß lackierten Schrank an genau dem Platz aufstellten, an dem sie ihn haben wollte, und das Regal gleich daneben, strich eine Wand in einem Pfirsichton, in den sie sich verliebt hatte, hängte neue Vorhänge auf, kaufte unsinnig viele Pflanzen in bunten Töpfen.
Zum ersten Mal im Leben schuf sie sich ein Zuhause.
»C’est magnifique!« , staunte Señora Blanco, als sie sah, was Charlotte aus dem Zimmer gemacht hatte. Charlotte lächelte nur; nachdem alles geschafft war, hatte sie nun doch rasende Kopfschmerzen.
Sie fuhr am nächsten Tag wieder zu Doktor Aleandro, der siemit seinem Tausendsorgengesicht ansah und ihr erklärte, das sei der Tumor, der wieder wachse und immer stärker auf ihr Gehirn drücke. Ob sie nicht doch …?
»Nein«, sagte Charlotte. »Ich will nur etwas gegen die Schmerzen.«
Er verschrieb ihr Tabletten, deren Beipackzettel voller Warnungen vor Nebenwirkungen länger waren als ihr Arm, die aber halfen. Sie achtete darauf, sich trotzdem nicht zu überanstrengen. Wenn sie ihre Einkäufe gemacht hatte, legte sie sich immer eine halbe Stunde hin. Später entdeckte sie eine Eisdiele, die einen großartigen Espresso machte; von da an richtete sie es
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