Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge
hunderttausend Jahren so weit waren wie wir heute, hat er gesagt, dann müssten sie inzwischen überall sein. Vor unserer Haustüre.« Rod zeigte zum Himmel empor, an dem trotz aller Lampions, Lichterketten und Strahler das Sternenmeer zu erahnen war. »Stattdessen: Stille. Schweigen. Wir senden Signale und kriegen keine Antwort.«
Hiroshi blickte ebenfalls hinauf. Es war eine klare Nacht. Er fröstelte.
»Ich brauche noch ein Bier«, sagte er zu niemand Bestimmtem.
Er ging hinein, die Treppe hinunter, das leere Glas in der Hand. Die Stimmung war schon anders als vorhin, als er hinauf gestiegen war: überdrehter, aufgeregter, voller Erwartung – so, als könne nun tatsächlich jeden Moment alles passieren.
Die Aufregung ergriff sogar ihn, und das, obwohl er gar nicht gewusst hätte, was er sich hätte wünschen sollen.
»Die Bar ist umgezogen«, erklärte ihm ein Typ mit einem ulkigen Kinnbart und auffallend grauen Augen. Er streckte die Hand aus. »Dort hinten in der Galerie, der letzte Raum.«
Hiroshi wanderte in die angegebene Richtung, schob sich an knutschenden Pärchen vorbei, passierte lauthals Lachende. In diesem Teil des Hauses war er noch gar nicht gewesen, zumindest kam es ihm so vor.
In dem Gang zur Bar verdichtete sich das Gedrängel, drohte, U-Bahn-Dichte zu erreichen. Und dabei hatten alle, die hier herumstanden, was zu trinken in der Hand!
Er war schon fast da, hatte nur noch zwei breitschultrige, lederbekleidete Männerrücken vor sich, die ihm den Durchgang versperrten. Er tippte ihnen auf die Schultern und sagte: »Darf ich mal?«
An das Folgende sollte er sich später immer nur erinnern, als habe es in Zeitlupe stattgefunden.
Die beiden Männerrücken wichen beiseite.
Irgendwo lachte jemand aus vollem Hals.
Ein weißer Vorhang blähte sich im Wind.
Und vor ihm stand Charlotte.
2
Sonntags schlief Dorothy gern lange. Nicht nur, weil es samstagabends manchmal spät wurde, sondern grundsätzlich: Es war sozusagen ihre Art, den Sonntag zu feiern, und wenn sie die Augen vor zehn Uhr aufschlug, dann war das früh.
Doch nun war sie aufgewacht, obwohl es noch fast dunkel war. Draußen herrschte bestenfalls Halblicht; man erkannte nur Umrisse, Schattierungen, aber keine Farben. Es war also nicht einfach nur früh, es war noch sehr früh.
Ihr erster Gedanke galt Hiroshi und wie schön es gewesenwäre, wenn er jetzt neben ihr läge und sie einfach zu ihm hinüberrutschen könnte, um ihn auf Gedanken zu bringen. Warmer, entspannter, halb wacher Sex am Sonntagmorgen, danach noch einmal wegdämmern, um irgendwann, wenn die Gliedmaßen wieder entwirrt waren, gemeinsam zu frühstücken: So ungefähr begannen die besten Sonntage, die sie sich vorstellen konnte.
Es klingelte. Im selben Augenblick kam Dorothy zu Bewusstsein, dass es das nicht zum ersten Mal tat. Das erste Klingeln hatte sie geweckt.
Es war ein schrecklich lautes Geräusch, erst recht um diese Zeit, und das Studentenwohnheim hatte schrecklich dünne Wände, was sie nicht immer zu vergessen imstande war. Jetzt zum Beispiel. Sie sprang aus dem Bett und eilte zur Sprechanlage.
Es war Hiroshi. »Ich muss dir was Wichtiges sagen«, hörte sie seine Stimme verzerrt im Hörer.
»Am Sonntagmorgen um …« – sie drehte sich um, um die Digitalziffern des Radioweckers auf ihrem Nachttisch zu sehen – »fünf Uhr zwölf?«
Sie wunderte sich über sich selbst, dass sie das sagte. Wieso freute sie sich nicht, dass er wie hergezaubert auftauchte, kaum dass sie an ihn gedacht hatte?
Aber das tat sie nicht. Irgendwas war unheimlich an der Sache.
»Es ist dringend«, beharrte Hiroshi. Wenn er auf etwas beharrte, hatte man sowieso keine Chance.
»Okay«, sagte Dorothy also und drückte den Öffner.
Es war kühl. Sie sah sich um. Sollte sie sich etwas überziehen, den Bademantel zum Beispiel, falls sie ihn fand? Andererseits bot sie so, wie sie war, in ihrem dünnen Nachthemd, einen appetitlichen Anblick. Wer wusste das schon, vielleicht wurde es ja doch noch ein schöner Sonntag?
Draußen hallten Schritte das Treppenhaus hoch, und in ihren Gedanken hallten Hiroshis Worte wieder: Ich muss dir was Wichtiges sagen …
Was konnte das sein? Die berühmten drei Worte womöglich? Sie wagte es kaum zu denken.
Dann stand Hiroshi in der Tür. Unordentlich gekleidet, nach Bier und Rauch riechend, mit geröteten Augen wie jemand, der die Nacht durchgemacht hatte.
Dorothy machte die Tür hinter ihm zu. »Sag mal … Warst du etwa auf der
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