Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge
bei sich hatte.
»Verstehe«, meinte James. Er musste sich anstrengen, die Augen nicht zu verdrehen. Ausgerechnet heute? So, wie er sich fühlte?
Das würde jetzt richtig Arbeit werden. So gut kannte er seine Mutter.
Die eigenartige Stille, die Hiroshi umgab, nein, erfüllte , wollte den ganzen Tag über nicht weichen. Sie kam nicht von außen. Sie fühlte sich eher an, als seien seine Gehörgänge verstopft oder als habe ihn jemand in meterdicke Watte gepackt. Er war müde, sein Hals kratzte, als kündige sich eine Erkältung an, und in seinem Magen blubberte und krampfte es noch von den ungewohnten Mengen an Alkohol und schlechtem Essen – und trotzdem erfüllte ihn ein warmes, wohliges Gefühl.
Ja, »erfüllt« war auch das einzige Wort, das annähernd beschrieb, wie ihm zumute war. Er konnte nicht aufhören zu staunen über das, was ihm widerfahren war. Er sah sein ganzes Leben vor sich ausgebreitet, sah die Wege, die er genommen hatte, und wie sie ihn schließlich hierhergeführt hatten, an diesen Punkt, zu diesem Moment. Auf einmal ergab alles Sinn. Charlotte so unvermutet wiederzutreffen, auf so unwahrscheinlicheWeise, erschien ihm wie eine Bestätigung, dass hier das Schicksal waltete, nicht mehr und nicht weniger. Und dass er eine Aufgabe hatte.
Sie hatten einen großen Teil der Nacht damit verbracht, einander ihre Lebensgeschichten zu erzählen seit dem Tag, an dem sie getrennt worden waren. Charlotte war damals mit ihren Eltern nach Argentinien gegangen, nach Buenos Aires. Später war ihr Vater noch einmal nach Afrika versetzt worden, nach Dakar im Senegal. Dort hatte Charlotte Sprachen wie Wolof, Diola und Pulaar gelernt, und insgesamt hatte es ihr gut gefallen, obwohl sie mehr oder weniger ständig an Magen-Darm-Krankheiten gelitten und die Tabletten zur Malariavorsorge nicht gut vertragen hatte.
Sie hatte von einem Maison des Esclaves erzählt, einem Museum auf einer Insel vor der Küste Senegals namens Gorée. Gorée behauptete von sich, der ehemalige Hauptumschlagplatz für den Sklavenhandel zwischen Afrika und Amerika gewesen zu sein: Tatsächlich, hatte Charlotte erzählt, habe sie in dem Haus davon aber nichts spüren können. In Wirklichkeit sei es ein Handelshaus gewesen, das erst viele Jahre später errichtet und in dem mit Elfenbein und Gold gehandelt worden war; in den angeblichen Verliesen im Keller habe nie ein Gefangener gesessen. Das ganze Museum sei ein Nachbau anderer Plätze, an denen der wirkliche Sklavenhandel stattgefunden habe, doch das verschweige man den Besuchern.
Sie besitze also immer noch diese Fähigkeit, die Geschichte von Dingen zu erspüren, hatte Hiroshi wissen wollen. Ja, hatte sie gesagt, aber es ließe nach. Sie müsse richtig verliebt oder richtig wütend sein, irgendwie aufgeregt jedenfalls, sonst blieben die Dinge stumm, oder zumindest verstünde sie dann nicht, was sie spürte. Allerdings ginge sie immer noch ungern in Bibliotheken; alte Bücher, die schon durch Hunderte von Händen gegangen waren, fühlten sich bisweilen so unerträglich an, dass sie deren bloße Nähe kaum ertrug.
»Aber musst du denn nicht viel in Bibliotheken arbeiten?«,hatte Hiroshi gefragt. »Stell ich mir so vor, wenn man Anthropologie studiert.«
»Ich will später hauptsächlich Ausgrabungen machen«, hatte sie erwidert.
»Hast du dir deswegen dieses Fach ausgesucht? Um deine Fähigkeit zu nutzen?«
Daraufhin hatte sie ihn seltsam verschleiert angesehen und gemeint, nein, das sei nicht der Hauptgrund gewesen. Aber das könne sie ihm nicht erklären, das müsse sie ihm eines Tages zeigen .
Hiroshi schüttelte staunend den Kopf. Wie lange lag das alles zurück! Das Mädchen im weißen Nachthemd, das spätabends im Regen gestanden hatte: Irgendwann war ihm das wie die Erinnerung an einen wunderlichen Traum vorgekommen. Doch es war wirklich geschehen. Kaum zu fassen.
Er sprang auf, suchte unter dem Bett nach einer bestimmten Kiste, zog sie hervor, blies den Staub weg und öffnete sie. Da war es, sein altes Masters of the Universe -Notizbuch, dem er als Heranwachsender sämtliche Details seines kühnen Plans anvertraut hatte!
Er schlug es auf. Es war beinahe voll, nur die letzten drei Blätter waren frei geblieben. Hiroshi blätterte darin, betrachtete die Seiten, die er manchmal bis an den Rand vollgekritzelt hatte mit Schemazeichnungen. Er las seine in feiner Handschrift verfassten Notizen, seine Gedanken, Gedanken zu Gedanken, Anmerkungen dazu … Bei vielen Sachen musste er
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