Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge
grinsen, vor allem auf den ersten Seiten, bei seinen allerersten, kindlichnaiven Ideen. Damals hatte er sich die Welt noch entschieden einfacher vorgestellt, als sie war.
Aber andererseits …
Manches von dem, was er da in diesem alten Notizbuch las, war aus heutiger Sicht erstaunlich pfiffig. Kühn. Buchstäblich luzide. Wie um alles in der Welt hatte ihm derlei mit 13, 14 Jahren einfallen können?
Hiroshi hob den Blick, sah aus dem Fenster, starrte in denHimmel, der heute von einem geradezu vibrierenden Blau war. Er musste an all das denken, was seither geschehen war in seinem Leben. An seine Schulzeit. An die vielen Bücher, die er verschlungen hatte. An seine bisherige wissenschaftliche Arbeit. Es war ein regelrechter Schock, auf den Hiroshi von damals zurückzublicken, sich an die unbändige Zuversicht zu erinnern, die ihn als Kind erfüllt hatte, als ihm die Idee gekommen war. Und was tat er heute? Er führte kleine Experimente durch, entwickelte zaghafte Theorien, studierte Abhandlungen von Leuten, die keine Ahnung hatten, und bemühte sich bei allem, wissenschaftlich korrekt zu arbeiten, um sich nicht angreifbar zu machen, sich abzusichern.
Er blätterte die bunten, raschelnden Seiten um. Hier hatte er die Pläne, um die Welt von Grund auf zu verändern, hatte sie fix und fertig in der Schublade, seit Jahren, und was tat er? Erfand ein Gerät, um Handwerkern das Ausmessen von Räumen zu ersparen. Schrieb kecke Aufsätze in einem Seminar, dessen Noten irrelevant waren. Riskierte nach einem Glas Champagner eine dicke Lippe gegenüber einem Profilneurotiker.
Er blieb entschieden unter seinen Möglichkeiten.
Er schloss die Kiste wieder, schob sie an ihren Platz zurück und setzte sich dann mit seinem alten Notizbuch an den Schreibtisch, um es noch einmal durchzulesen, von vorne bis hinten, jeden einzelnen Eintrag. Um sich alle Gedanken und Ideen, die er zu seiner Idee jemals gehabt hatte, wieder ins Gedächtnis zu rufen. Um sich zu erinnern, zu erinnern, zu erinnern.
Es war – fast noch mehr als das Wiedersehen mit Charlotte – eine Zeitreise. Die Stunden verflogen, während er lachen musste, nachsichtig schmunzeln – oder staunen: Denn da war so vieles, bei dem er sich sagte, dass es tatsächlich funktionieren würde! Nicht unbedingt genau so, wie er sich das als 14-Jähriger vorgestellt hatte, aber doch im Prinzip! Irgendwann merkte er, dass er einen Stift in der Hand hatte und sich Notizen machte. Dass er regelrecht aufgeregt war.
Sein anfängliches Gefühl, all die Jahre über seine Zeit verplempertzu haben, wandelte sich im Lauf dieser Stunden zu der eigenartigen Gewissheit, dass die Wiederentdeckung dieses Notizbuchs im genau richtigen Augenblick geschehen war. Dass es gut war, dass all dies so lange verborgen gelegen hatte, nahezu in Vergessenheit geraten war. Weil etwas hatte reifen müssen, das nur im Verborgenen hatte reifen können.
Weil alles, was geschehen war, geschah und noch geschehen würde, Schicksal war.
Als er die alte, abgegriffene Kladde zuklappte und ihn He-Man und Skeletor grimmig vom Umschlagbild her ansahen, erfüllte ihn eine Zuversicht, wie er sie schon lange nicht mehr verspürt hatte. Er holte sein Telefon heraus, scrollte durch das Verzeichnis, bis er Charlottes Nummer fand, die er letzte Nacht einprogrammiert hatte.
Er musste sie wiedersehen. Das war der logisch nächste Schritt.
Gegen vier Uhr rief James endlich an, völlig aufgekratzt: »Wir gehen aus! Mach dich fertig, ich hol dich um sieben ab!« Charlotte hatte gar keine Chance, Widerspruch einzulegen.
Wobei ihr das eigentlich ganz recht war, überlegte sie, während sie das Telefon wieder weglegte. Dann musste sie nicht kochen. Irgendwie war ihr heute nicht danach.
James, der entweder zu früh oder zu spät kam, Hauptsache niemals pünktlich, lief schon um halb sieben ein. Charlotte bürstete sich gerade das Haar, als sie seinen Jaguar sah, wie er die Straße entlanggeprescht kam und schwungvoll vor die Garage einbog. Sie legte die Bürste beiseite, öffnete die Tür, und da kam James schon federnden Schrittes die Treppe hoch, umfing sie und küsste sie so stürmisch, als hätten sie sich wochenlang nicht gesehen.
»Um Himmels willen, James …!«, keuchte Charlotte, die um ihr Kleid zu fürchten begann.
»Ich kann nichts dafür«, murmelte er irgendwo an ihrem Hals. »Du bist einfach umwerfend.«
Es war nicht so, dass er mit seinen Komplimenten besonders originell gewesen wäre. Aber was er sagte, sagte
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