es das Gleiche gewesen. Die Tage düster, die Räume klamm, meine Stimmung schwarz. Auch in dieser Zeit hatte mir das Malen geholfen. Niki Daslaki, meine Kunstlehrerin, eine füllige, resolute Frau, hatte meine Zeit mehr in Anspruch genommen, als mir lieb war. Ständig musste ich zu Extra-Stunden antreten. Zuerst nahm sie mir alle Farben weg. Ich sollte nur zeichnen. Einen Apfel, einen Stuhl, eine Vase. Ein Gesicht, eine Katze, einen Läufer. Sie war unerbittlich, jeder Strich musste sitzen. Als sie mir zum ersten Mal einen Aquarellmalkasten gab, fühlte ich mich, als hätte ich den Ritterschlag erhalten. Als sie mir Ölfarben in die Hand drückte, wähnte ich mich auf dem Olymp. Ohne sie hätte ich die trostlosen Athener Winter nie durchgestanden. Von der Aufnahmeprüfung der Kunsthochschule in Hamburg ganz zu schweigen.
In diesem Winter dachte ich oft an sie. Manchmal war mir, als hörte ich ihr »Disziplin, Helena, Disziplin! Ohne Disziplin bist du verloren!« – Also übte ich mich in Disziplin und malte und malte.
Bis ich eines Morgens durch das Klingeln der Briefträgerin unterbrochen wurde, die mir eine sperrige Papprolle überreichte. Kein Absender, ein Hamburger Poststempel. Wahrscheinlich das Werbeplakat für das neue Kasimir-Buch.
Ich kochte mir einen Becher Tee, klemmte mir die Rolle unter den Arm, verzog mich wieder in mein Zimmer und pulte den Plastikverschluss von der Bilderrolle. Wie ich vermutet hatte, ein Plakat. Ich zog es heraus, rollte es auf und – au Mann! Das Anna-Blume-Plakat. Natürlich eine Reproduktion, aber in Originalgröße. Daran ein schlichter, weißer Zettel: »Schwer, dich zu vergessen, schöne Helena.« Darunter eine E-Mail-Adresse:
[email protected].
Wie betäubt sank ich in mein Sofa. Das war eine Botschaft aus einer anderen Welt.
Benommen starrte ich auf den Zettel. Die E-Mail-Adresse kannte ich längst. Seine Telefonnummer auch. (Google macht's möglich.) Am liebsten hätte ich ihn angerufen. Seine Stimme gehört. Am allerliebsten ... – Nein! Das durfte ich nicht einmal denken!
Und nun?
Noch immer haftete mein Blick auf dem kleinen Stück Papier in meiner Hand. Eine schöne Schrift hatte er. Breit und offen. Energisch.
Ein bisschen zu energisch. Wie konnte er es wagen, so in meine Welt einzubrechen? Er wusste doch, dass ich verheiratet war! So was gehörte sich einfach nicht! Was bildete der Kerl sich eigentlich ein?
Oder war er einfach nur einsam und verzweifelt und klammerte sich an eine romantische Erinnerung? Das einzig Warme, das es in seinem traurigen Leben gab? Der Arme! Da musste ich doch irgendwie reagieren, oder? Aber wenn ich ihm jetzt eine E-Mail schickte und ihm damit den kleinen Finger reichte, würde er dann nicht wie ein Ertrinkender nach meiner Hand greifen? Mich in den Abgrund ziehen?
Blödsinn! Ich stand mit beiden Beinen fest in meiner Ehe, mir ging es gut, da würde ich ja wohl noch die Kraft haben, einem unglücklichen, verlassenen Menschen zu helfen, der gerade eine schwere Zeit durchmachte.
Außerdem – seine Post war so lieb. So diskret. Wie ein schüchterner Hilferuf Darauf musste man einfach reagieren. Nur – wie?
Irgendwann würde mir schon etwas einfallen, ich musste ja nichts überstürzen. Zunächst einmal entschied ich mich für entschlossene Tätigkeit: Wenn ich die Fotos gegenüber dem Zeichentisch etwas umhängte und das kleine Regal ein Stück nach rechts rückte, würde das Plakat ideal daneben passen, sodass ich es von meinem Platz aus immer im Blick hatte.
Wie immer, wenn ich begann, nur mal eben ein paar Bilder umzuhängen, endete das Ganze in einer mittelschweren Räum- und Putzaktion. Als ich zwei Stunden später fertig war, war mein Zimmer blitzsauber, mustergültig ordentlich und verdammt gemütlich. Wie zur Belohnung kam sogar die Sonne hinter den bleigrauen Winterwolken hervor.
Und ich wusste, wie ich Steffen antworten würde. Ich montierte meine Digitalkamera auf das Stativ, stellte den Selbstauslöser ein und setzte mich im Schneidersitz auf den Boden vor das Anna-Blume-Plakat. Ich nahm eine nachdenkliche Pose ein – nicht ganz so dramatisch wie der Denker von Rodin, das wäre vielleicht etwas überzogen gewesen –, schoss acht Fotos, wählte das beste aus, setzte ein großes rotes Fragezeichen über meinen Kopf und mailte es an
[email protected], Betreff: Verwirrt. Kein Text.
Begann wieder zu malen. Einäugig. Mit dem anderen Auge beobachtete ich meinen Posteingang. Fünf Nachrichten, null ungelesen. Auch