Herr Bofrost, der Apotheker und ich
duftete nach Kaffee. Auf der Anrichte ein Zettel: »Guten Morgen, meine Kleine! Ausgeschlafen? – Hole dich um 17 Uhr ab, habe Tisch + Zimmer im Kastanienhof gebucht. Ich liebe dich!«
Au Mann! Der Kastanienhof in Bad Münder war eines der raren romantischen Highlights in unserer Gegend. Gediegen-verspieltes Ambiente, ausgezeichnetes Essen, lange Spaziergänge, Schwimmen im hauseigenen Pool.
Ich fühlte mich richtig mies. Heute Abend, das schwor ich mir, würden keine grünen Pünktchen vor meinen Augen tanzen, wenn ich mit Holger in das breite, luxuriöse Hotelbett kroch!
Aber Quatsch, warum sollten sie auch? Was war denn schon gewesen? Glatteis. Ein Ausrutscher. – Und? Hatte ich mir die Haxen gebrochen? Na also.
Ich schenkte mir Kaffee ein und sah auf die Uhr. Halb zwölf. Vor vierundzwanzig Stunden ... Nein, Lena!
Was pflegte Katharina immer zu sagen, wenn ich meinen pubertären Blues kriegte? »Entschlossene Tätigkeit, Lenchen, das ist es, was du jetzt brauchst!« Und damit jagte sie mich in den Garten zum Himbeerpflücken oder im Winter in mein Zimmer zum Aufräumen.
Und? Hatte es nicht immer geholfen? – Es hatte.
Heute fing ich mit meiner unsäglichen braunen Tasche an. Reihte ihren Inhalt systematisch auf dem Küchentisch auf: eine Packung Tempotücher (leicht angeschmuddelt), ein Schreibblock (Eselsohren), eine angebrochene Tafel Schokolade (Verfallsdatum überschritten), eine Schachtel Aspirin (dito), ein Gedichtband von Erich Fried (voller Tabakkrümel), eine Niveadose (leer), eine CD von Phil Collins (Hülle kaputt), eine Batterie für meinen Discman (ausgelaufen) ... meine Güte, schleppte ich denn wirklich nur Schrott mit mir herum? – Nein, da waren ja meine Zigaretten. Mensch, und die rosa Swatch-Uhr, die ich so lange gesucht hatte! Und ... was war das? Eine kleine, rote Blechdose, quadratisch, mit einem Teddy auf jeder Seite! Steffen musste sie mir in einem unbeobachteten Moment zugesteckt haben. Ein Rest Kandis war noch darin. Er duftete irgendwie nach Orangen und Zimt, aber das bildete ich mir vielleicht nur ein.
Verdammt!
Entschlossen stand ich auf, rammte den Deckel auf die blöde Blechdose und stopfte sie in die Tasche meines Bademantels. Dann entsorgte ich den Müll aus meiner Tasche in eine Plastiktüte und trug sie zur Mülltonne, bevor ich es mir anders überlegen konnte. Und die Tasche, die nun wirklich aussah wie der ausgediente Sack eines Jägers und Sammlers, gleich hinterher.
Danach ging ich hinauf in mein Zimmer, steckte die kleine Dose, ohne sie auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen, in eine der unzähligen Kisten, die auf dem Boden herumstanden. Irgendwie herrschte hier das totale Chaos. Da konnte ich gleich weitermachen mit entschlossener Tätigkeit.
Zwei Stunden später ging es mir besser. »In einem aufgeräumten Zimmer ist auch die Seele aufgeräumt.« Das war auch so einer von Katharinas Lieblingssprüchen, und als ich dreizehn war, habe ich jedes Mal vor Wut gekreischt, wenn ich ihn hörte. Heute fand ich ihn wahnsinnig weise.
Zufrieden blickte ich mich um. Auf den frisch geduschten Benjaminen glitzerten die letzten Wassertröpfchen, die Glasplatte des Couchtischs blitzte, die Kissen auf dem weißen Leinensofa warfen keine einzige Falte, die Stifte standen ordentlich in ihren Dosen, und auch der Teppich war radiergummikrümelrein. Ich fühlte mich irre tugendhaft. Grüne Pünktchen? – Phhh!
* * *
Und dabei blieb es. Der Abend in Bad Münder war schön. Es gibt nichts Besseres, als sich nach einem ausgedehnten Spaziergang im eisigen Winterwind an einen festlich gedeckten Tisch zu setzen und ein Essen serviert zu bekommen, das mit eigenen Kochkünsten nie im Leben hätte hingezaubert werden können. Dazu Kerzenlicht, ein süffiger Wein, ein entspannter Holger ...
Ich schlief sehr fest in dieser Nacht unter dem üppigen Hotelfederbett, und am nächsten Morgen war meine Welt wieder völlig in Ordnung. Und dabei blieb es.
Obwohl der Winter so grau war, der Himmel so stumpf, die Luft kalt und feucht. Ich verkroch mich in dicke Wollpullover und trank Unmengen Tee – in unserem kleinen Teeladen in der Innenstadt hatten sie meine Sorte: Orangen und Zimt. Ich hörte Mozart und Neil Diamond (»Hooked on the memory of you«) und malte wie eine Besessene. Jeden Tag musste ich ein bisschen kämpfen, um mir meine Heiterkeit zu bewahren.
Aber das kannte ich. Damals, als meine Eltern mich plötzlich in dieses schreckliche Internat in Athen gesteckt hatten, war
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