Herr der Moore
lag Neil auf dem Rücken und bäumte sich gegen die Leere über ihm auf. Der Urheber seiner Wut war verschwunden, hatte von ihm abgelassen. »Wo bist du, Bastard?«, wütete er. »Wohin hast du dich verdrückt?«
»Öffne die Augen und suche.«
»Du weißt, ich kann nicht.«
»Probiere es aus.«
»Ich sagte doch, ich kann nicht!«
»Tu es einfach!«
Neil gehorchte …
Ich kann nicht …
… und brüllte in grenzenloser Agonie, als seine Lider mit einem leisen Laut aufgingen, als schneide jemand in das Fruchtfleisch eines Kürbisses. Flüssigkeit rann aus Wunden, und der Knabe hielt sich die zitternden Hände vor die Augen. Er wagte es nicht, sie anzufassen, wollte sich jedoch zugleich der Verletzungen vergewissern und wissen, was ihm dieser Unmensch angetan hatte.
»Oh Gott!«
»Weiter«, drängte Stephen hörbar erheitert. »Sieh hin.«
»Du hast sie aufgeschnitten!«, kreischte Neil gänzlich aufgelöst. »Du hast meine Augen aufgeschnitten! Gott steh mir bei!«
»Sieh hin.« Es klang fast wie ein Singsang.
Die Kreaturen grollten.
»Oh Gott«, wiederholte Neil und meinte, sich erbrechen zu müssen. Er beugte sich vornüber, und sein Mund füllte sich bereits, als er seine Hände sah … nasse Hände, besudelt mit …
Er stockte in seinen Bewegungen.
Seine Hände. Weiche, weiße Glieder in verschwommener Bewegung, Finger wie im Traum oder unter Wasser.
Seine Hände. Er spannte sie an, fühlte und sah , wie sie auf seine Impulse ansprachen, obwohl mit leichter Verzögerung zwischen Anreiz und Bewegung.
Mein Gott … es ist eine Täuschung, ein teuflischer Trick. Anders kann es nicht sein.
Falls er recht hatte, wollte er alles tun, um sie aufrechtzuerhalten. Egal wie gefährlich es war oder wie teuer es ihn zu stehen kommen sollte, hatte er nicht vor, das Wunder loszulassen, das ihm gerade widerfuhr.
Kein Wunder.
Eine Gabe.
Er schaute erstaunt auf und war für den Augenblick nicht in der Lage, Luft zu holen. Er erkannte das Feuer und die Flammen als silbrige Zungen, während sich der Rauch wie schwarze Arme eines Schwimmers rankte, der zur Wasseroberfläche strebte.
Die Welt zeigte sich schwarz-weiß mit Silbertönen, und über den Flammen schwebte ein Gesicht, ein blasses Oval mit schmutzig dunklen Augen sowie einem ebenso finsteren Halbmond als Grinsen. Als Neil wieder blinzelte, quoll gallertartige Flüssigkeit über seine Wangen. Etwas davon blieb an seinen Wimpern kleben, und er musste wieder würgen, bevor ihm einfiel, dass es sich bloß um ein Sekret handelte, das seine Sicht behinderte. Vermutlich entledigte er sich eines viskösen und lange aufgestauten Giftes, das für seine Blindheit verantwortlich gewesen war.
Unglaube ließ ihn erschauern.
»Ich …«
Er drehte sich um und sah aufgewirbelten Staub, einen Nebel aus schwarzen Sternen. Da lächelte er. »Ich kann sehen .« Er erhob sich und blieb auf wackligen Beinen stehen, während er sich an den Farben ergötzte, die bei jeder weiteren Bewegung explodierten. Vor ihm hinter dem Eingang beschrieb die Nacht ein weißes Quadrat, wobei gelegentlich schwarze Beine wie von Insekten den Schleier zerrissen: Blitze.
Zudem wachten die Hunde an der Tür, bei welchen es sich überhaupt nicht, wie er erkannte, um Hunde handelte. Genauso wenig wollten sie ihm etwas zuleide tun, sondern starrten ihn ehrfürchtig aus silbern flammenden Augen an.
»Willkommen in der Welt«, grüßte Stephen und trat hinter dem Feuer hervor. Als er sich zu ihm gesellte und eine Hand ausstreckte, sah Neil sie zwischen ihnen beiden zucken.
»Wie ist das möglich?«
»Es entspricht deinem wahren Ich«, sagte Stephen. »Das bist du.«
Neil wartete darauf, dass er aufwachte, weil er sich immer noch träumend wähnte. Obwohl er deutlich genug sah, um hinauszugehen, nahm er die Hand, die sein Gegenüber ausstreckte, und ließ sich langsam zur Tür führen.
»Wie«, drängte er erneut und spürte gleichzeitig, wie sich alles veränderte. Die Grenzen seiner dunklen Wirklichkeit weiteten sich vor dieser kühnen, neuen Macht, dieser wundersamen Gabe . Die Mauern vibrierten vor seltsamen Formen und mysteriösen Schatten auf ihrer Oberfläche. Bisweilen war ihm, als erkenne er Gesichter, doch schaute er erneut hin, hatten sie sich verflüchtigt. Der Raum pulsierte, schillerte vor Farben wie Adern in einem Monochrom.
»All das gehört dir«, beschwor Stephen. Mit ausgestrecktem Arm beschrieb er eine weite Geste über das Moor. »Restlos. Außerdem gilt dir alles als
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