Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herr der Nacht

Herr der Nacht

Titel: Herr der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
Vom Netzwerk:
Schleier zurück, und Vayi erkannte sie sofort. Langes, goldblondes Haar ergoß sich über ihre Schultern, und ihr Gesicht war das Gesicht einer Blume. Es gab in ganz Unterwelt keine andere, die ihr ähnlich war, und wahrscheinlich keine wie sie auf der Erde oben. Denn dies war Ferashin, die Blüten-Geborene, das Mädchen, das Asrharn aus einer Blume hatte wachsen lassen, um den Sterblichen, Sivesch, zu erfreuen, der nun unter der See lag.
    Ferashin saß am Ufer. Sie streckte ihre weißen Hände zum kalten, schwarzen Wasser und zum unveränderlichen Himmel aus. Sie ließ ihren Kopf hängen und weinte.
    Vayi war fasziniert. Weinte sie um Sivesch? Oder weinte sie, wie Sivesch geweint hatte, vor Sehnsucht nach der grausam leuchtenden Erdensonne? Dann sah Vayi, wie die Tränen Ferashins hinunterfielen auf den Fels und dort glänzten und glitzerten. Was für Edelsteine man aus diesen Tränen machen könnte , dachte Vayi sofort, hell wie Diamanten, doch weicher; mehr wie Perlen, doch klarer als Perlen, glitzernder; eher wie Opale, doch reiner als Opale; mehr wie bleiche Saphire, jedoch nicht durch Farbe beeinträchtigt. Aber wie, wie soll ich sie auffangen und sie härten?
    Vayi griff in seinen Gürtel und zog eine kleine Schachtel hervor, spuckte hinein und ließ aus seinen holzigen Händen einen Zauber hineinfließen. Dann hüpfte er nach vorn und hob eine Träne auf mit der Spitze seines kleinen Fingers und ließ sie, ohne sie zu zerbrechen, in die verzauberte Schachtel fallen. Sechs weitere Tränen hob er danach auf und fügte sie seiner Sammlung hinzu, bevor Ferashin von ihrem Weinen aufblickte und ihn bemerkte. Sie warf nur einen einzigen Blick aus Furcht und Schmerz auf ihn, zog ihren Schleier zusammen, stand auf und ging langsam zurück zu den Toren von Druhim Vanaschta. Obwohl er verzweifelt danach suchte, konnte Vayi keine weiteren Tränen zwischen den Steinen glitzern sehen, deshalb tollte er hinter ihr her und rief: »Hübsche Ferashin, komm zurück und weine ein bißchen mehr, und ich will dir Spangen und Broschen und Ohrringe dafür geben.« Aber Ferashin schenkte ihm keine Beachtung, und bald darauf eilte er in Richtung See von dannen, wobei er die kostbare Schachtel krampfhaft festhielt und vor sich hinmurmelte: »Sieben ist genug. Mehr wäre vulgär. Sieben ist außergewöhnlich.«
    In seine eigene Höhle rannte Vayi, entfachte das Feuer und stocherte in seinem unordentlichen Vorratshaufen an Metallen, Bergkristallen und Edelsteinen herum. Alsbald ging er zu einem Käfig, in dem drei runde Spinnen schliefen, und rüttelte an den Gitterstäben.
    »Wacht auf, wacht auf, Töchter der Faulheit«, rief er. »Wacht auf und spinnt, und ich will euch Kuchen bringen, der in Wein eingelegt ist, und der Prinz der Dämonen wird euch streicheln mit seinen wundersamen Fingern.«
    »Oh, du größter aller Lügner«, sagten die Spinnen, aber desungeachtet gehorchten sie ihm, und bald war die zwielichtige Höhle mit ihren Filigrangeweben ausgeschmückt.
    Stunde um Stunde arbeitete Vayi in seiner Esse. Das Feuer loderte und rauchte, und andere Feuer – Zauberfeuer – verschönten die Luft. Er war erleuchtet und rief jede einzelne der kleinen, seltsamen Zaubereien zu Hilfe, zu denen die Drin Zugang hatten. Manchmal kamen andere Drin zum Höhleneingang und spähten neugierig hinein. Aber die Höhle war voll von Qualm, und sie konnten die Worte der Zaubersprüche Vayis nicht verstehen, denn alle Drin waren durch ihr fortwährendes Hämmern ein bißchen taub. Wie lange Vayi insgesamt arbeitete, ist schwer abzuschätzen. In der Unterwelt wurde es als eine lange Zeit erachtet, und auf der Erde selbst waren gewiß viele Jahreszeiten aufeinander gefolgt und viele Menschenjahre verstrichen zwischen dem Anfang und dem Ende seiner Anstrengung. Schließlich trat in der Esse Ruhe ein.
    Die anderen Drin schlichen herbei, aber nun hatte Vayi eine seiner Spinnen zu ungeheurer Größe verwandelt und steckte das arme Ding in die Höhlenöffnung, so daß niemand hinein- oder herauskommen konnte.
    »Hallo da, Vayi!« riefen die Drin. »Zeig uns, was du angefertigt hast, das dich solche Ewigkeiten gekostet hat.«
    »Geht und ersauft im Schlamm!« schrie Vayi von drinnen unverschämt zurück. »Hier ist nichts, das für eure Augen bestimmt wäre.«
    Die Drin entfernten sich ein Stückchen und standen murmelnd am See beisammen. Einer von ihnen, Bakvi, war sehr eifersüchtig und seiner selbst nicht sicher, denn er erinnerte sich an Vayis

Weitere Kostenlose Bücher