Herr der Nacht
Hexe auf.
»Du hast viele Tage und Nächte geschlafen«, sagte sie, »doch zweifellos schienst du bis vor einer Stunde ungefähr in der Unterwelt gewesen zu sein.«
Die ganze Zeit über hatte sie ihn beschützt und seinen Körper im Schlaf mit ihren Zaubermitteln frisch gehalten. Nun, als er aufstand und diesen langen Schlaf abschüttelte, stand die Frau an der offenen Tür und schaute hinaus.
Aufwärts segelte die Sonne, der Himmel entzündete sich wie eine Lampe, und auf dem Plateau kam eine schlanke Gestalt mit wehendem Haar entlang, das die Farbe dieses Himmels hatte.
»Ich sehe ein Mädchen mit weizengelbem Haar«, sagte die Hexe, »und einem Blumengesicht.«
Kasir ging sogleich hinaus und wartete vor dem Haus, und Ferashin kam ihm mit ausgestreckten Armen entgegengelaufen und lachte vor Glück.
Ein Jahr lang lebten Kasir und Ferashin dann zusammen, und ihre Tage ergeben keine Geschichte, denn sie waren gut und voller Freude und ohne Ereignisse. Sie hatten keine Reichtümer, das ist wahr, und wanderten zusammen von Land zu Land, wie der Poet immer getan hatte, und verdienten ihr Brot, er durch Singen, sie durch Tanzen, denn sie hatte entdeckt, daß sie tanzen konnte wie eine Blume auf dem Felde im sanften Sommerwind. Sie hatten keinen Palast aus Kristall und Gold, doch ihr Saal war groß genug mit seinem blauen Dach, seinen Böden aus Gras, mit Blümlein bestickt, und seinen großen Baumsäulen. Beide liebten die Welt, jeder liebte den anderen. Sie pflegte ihm alles zu erzählen, was sie sah, er erzählte ihr die gesamte Geschichte von Dingen, in die er sich durch Berührung hineinversetzen konnte, in einen Stein oder eine zerfallene Mauer. Sie vereinigten sich durstig, wie es die Jungen tun, denen die Liebe ein reißender Fluß ist. Sie kannten die Vollendung der Zufriedenheit.
Dann, in einer Abenddämmerung am Ende des Jahres, trafen sie einen Jungen auf der Straße.
Er war sehr jung, dieser Junge, und hübsch, mit großen, dunklen, stechenden Augen. Er kam langsam heran, als ob er sich nicht sicher wäre. Dann sagte er: »Kann es sein, daß du Kasir bist, der blinde Poet, dessen Stimme Krankheiten heilt?«
»Ich bin Kasir«, antwortete Kasir. »Was das übrige angeht, so kann ich mich dessen nicht rühmen.«
Aber der Junge kniete nieder auf die Straße und hielt den Saum von Ferashins Kleid fest.
»Herrin, ich bitte euch, mir zu helfen. Mein Vater liegt krank in unserem Haus und will niemanden zu sich lassen; nur nach Kasir verlangt er Tag und Nacht. Er sagt, es gab eine Prophezeiung in seiner Kindheit, daß er erkranken und sterben werde, wenn nicht der blinde Kasir ihn mit einem Lied gesund machen würde. Deshalb überrede den Dichter, daß er zu ihm geht und ihn rettet.«
Kasir runzelte die Stirn. Die Worte des Knaben beunruhigten ihn. Aber er sagte: »Ich will mitkommen, wenn du es wünschst.«
Der Junge sprang auf und stürzte vorwärts. Er wies ihnen den Weg. Kurz darauf führte die Straße zu einem vornehmen Haus mit offenen Toren aus Eisen. Im Außenhof plätscherte ein Springbrunnen, und am Brunnenrand saß ein schlanker, schwarzer Hund.
»Wenn es dir recht ist, mußt du nun allein hereinkommen«, sagte der Junge zu Kasir, »und die junge Herrin muß im Hof warten. Mein Vater erlaubt niemandem ins Haus zu kommen, außer mir, und selbst ich darf den Raum nicht betreten, in dem er liegt.«
»Einverstanden«, sagte Kasir, aber irgendwie gefiel ihm diese Idee sehr wenig. Ferashin jedoch setzte sich gelassen an den Springbrunnen und streckte ihre Hand aus, um den schwarzen Hund zu streicheln, aber er war offenbar scheu und rannte mit dem Jungen ins Haus.
Im Innern waren viele Stufen und eine Tür.
»Vater«, rief der Junge, »ich habe Kasir gefunden.« Als niemand antwortete, murmelte der Junge: »Er ist sehr schwach. Geh hinein und singe für ihn und mache ihn gesund, wenn du kannst, und wir werden dir für immer dankbar sein.«
Also trat Kasir in den Raum. Aber er sang nicht. Der Ort schien ihm leer zu sein, er fühlte keinen Kranken in der Nähe liegen, und plötzlich war die Luft von einem dunklen, fremdartigen Geruch erfüllt. Es erinnerte ihn an andere Gerüche, die er nur einmal zuvor erfahren hatte: als seine Seele durch die Straßen von Druhim Vanaschta wandelte.
Sofort drehte er sich um und wollte den Raum verlassen, aber irgend etwas rannte gegen seine Beine: es hatte die Form eines Hundes, aber als er es berührte, erkannte Kasir, was es war: Dämonenfleisch. Im nächsten
Weitere Kostenlose Bücher