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Herr der Nacht

Herr der Nacht

Titel: Herr der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
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wirst. Hier werden deine Gedanken sterben wie dein irdisches Gehirn schon gestorben ist. Vergiß, vergiß, niemand erinnert sich deiner, und komm mit!«
    Doch Ferashin wanderte nur durch die Nebel und flehte zu Kasir, er möge sie finden.
    Keine Zeit verging an solchem Ort, doch eine Art Zeit verging. Ferashin flog nicht mit den anderen Reisenden nach oben, die durch jenes Tor eilten. Sie suchte, bis sie selbst ganz Suche war, sie rief einen Namen, bis sie selbst nur noch aus einem rufenden Schrei bestand, wie ein Vogel in der Wüste. Sie verzweifelte und wurde selbst Verzweiflung. Sie vergaß wahrhaftig alles. Vergaß sich selbst, vergaß den Weg von der Schwelle, vergaß zuletzt sogar Kasir.
    Dann drang ein unsichtbarer Faden wie seidener Draht in die Vorhölle und wand sich um ihr Herz, so daß sie sich erinnerte, daß sie eines besaß. Langsam, doch unerbittlich, begann der Faden an ihr zu zerren und zog sie zu jenem ungeheuren beweglichen Tor zurück, durch welches sie gekommen war. Nach und nach, Stückchen um Stückchen zog sie der Faden. Es schien ihr, als höre sie Musik und sehe Licht, und sie liebte sie, doch sie erinnerte sich nicht daran, was sie waren.
    Dann kam eine große Qual und Furcht und Freude. Sie überwältigten sie, ertränkten sie, trugen sie mit sich fort. Sie stürzte durch Meere aus Feuer und Flammen aus Schmerz, sie legte Fleisch an wie ein brühend heißes Kleid, und Messer rissen ihre Augen weit auf zu einem Himmel von schwarzen Strahlen.
    Sie stand im Kelch einer riesigen Blüte, wie schon einmal. Sie sah einen Mann, wie schon einmal. Da sie ihn sah, ihn fand, erinnerte sie sich an alles. Sie klammerten sich aneinander, wie der Stamm des Baumes sich an die Erde klammerte. Was sie zueinander sagten und sich versprachen in diesem Augenblick, wem müßte man es erzählen?
    Aber irgendwo schlug vielleicht eine dunkle Tür zu wie Donner – in einer Stadt unter der Erde.

Zweites Buch
Lug und Trug
TEIL EINS
1
Der Stuhl der Ungewißheit
    Es gab einen König im Osten, in der Stadt Zojad; sein Name war Zoraschad. Er liebte es, Armeen auszuheben, er hatte dafür eine Begabung. Tatsächlich schien er Armeen wachsen zu lassen wie ein Feld Unkraut hervorbringt. Und starke Unkräuter waren sie, aus Bronze und Eisen, und sie sahen erschreckend aus, wenn die Sonne auf ihre ehernen Märsche und ihre Kriegsmaschinen blitzte und Staubwolken vor und hinter ihnen aufstiegen. Und sie hörten sich furchterregend an: das Klirren des Metalls, der schwere, feste Marschtritt, das Rattern der Wagenräder und das Gellen der Ochsenhörner und Trompeten. Die tapfersten Könige und Prinzen und ihre zuverlässigsten Hauptleute fühlten in ihrer Nähe alle Kampfeswut sich in Verwirrung auflösen. Und natürlich verlor Zoraschad nicht eine Schlacht, und manchmal brauchte er gar nicht zu kämpfen. Große Feldherren beugten das Knie vor ihm und ergaben sich, ohne daß ein Schlag ausgetauscht worden wäre. Nicht nur seine Armeen, sondern auch er selbst schien ein ungeheures Flair von Gewalt mit sich zu tragen: er war undurchdringlich und unbarmherzig. Solche, die sofort auf die Knie fielen, verschonte er und nahm sie als Vasallen; jene, die Widerstand leisteten, überwältigte er gnadenlos, und dann ließ er ganze Familien über die Klinge springen, verbrannte die königlichen Paläste, zerstörte die Städte und verwüstete das Land. In seiner Wut war er wie ein Drachen, reißend und maßlos. Prahlsucht war seine Leidenschaft, aber er stand auch im Ruch, ein Zauberer zu sein.
    Der Grund für dieses Gerücht war ein geheimnisvolles Amulett. Niemand wußte, wie Zoraschad daran geraten war; einige sagten, er habe es in der Wüste gefunden, in der verlassenen Halle einer Ruine, neben einer umgefallenen Säule, einige, daß er es mit Hilfe einer List von einem Geist erhalten hätte, andere, daß er vor vielen Jahren eines Nachts einem toten Tier auf einer einsamen Straße begegnet sei, einem Geschöpf, das keinem anderen Tier glich, das man je auf Erden gesehen hatte, und von einer Art Instinkt oder Prophezeiung geleitet, habe er die Gallenblase der Bestie aufgeschnitten und dort das Amulett gefunden, das die Form eines blauen Steins hatte, glatt und hart wie Jade. Was immer jedoch seine Quelle war, der König pflegte das Amulett um seinen Hals zu tragen, und wer hätte seine Wirksamkeit leugnen können? Bald war er der Herrscher über siebzehn Länder, ein Reich, das sich hier- und dorthin, in diese und jene Richtung

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