Herr der Nacht
Augenblick schoß ein klingendes Nichts in Kasirs Gehirn, als die schattenhafte Droge seine Lungen füllte. Umsonst versuchte er es abzuwehren, die Tür zu erreichen, nach Ferashin zu rufen und sie zu warnen. Nachtadler hielten ihn fest. Er sank zu Boden und lag wie tot.
Ferashin im Hof sprang auf. Es hatte keinen Laut gegeben, um sie zu beunruhigen, doch ganz plötzlich empfand sie Furcht. Im selben Augenblick kam der junge Knabe aus dem Haus gelaufen, den Hund an seinen Fersen.
»Ferashin«, sagte der Jüngling, »Kasir ist tot.«
Und der schwarze Hund bellte.
Sogleich erkannte sie sie: einer der Vazdru in der Gestalt eines Knaben, während der tintenschwarze Hund … sie starrte in seine Kohlenaugen und erblickte plötzlich Asrharn. Und das ganze Haus um sie herum waberte wie Rauch. Dann war auch schon alles verschwunden: Haus, Hof, Brunnen und die beiden Gestalten mit ihnen. Sie stand auf einer Böschung bei einem kleinen Bach, kalt unter den Sternen, und vor ihr lag Kasir.
Sie rannte zu ihm. Sie nahm sich keine Zeit, nachzudenken. Sie berührte seine eisigen Hände und strich mit ihren Fingern über seine geschlossenen Lider. Sie spürte keinen Herzschlag, hörte kein Atmen. »Nun weiß ich, daß du tot bist«, flüsterte Ferashin, und wie Asrharn ihr versprochen hatte, fühlte sie ihre eigenen Hände zu Stein werden, ihr Herz und ihren Atem anhalten; ihre Lider schlossen sich, und auch sie lag tot neben Kasir.
Aber Kasir war nicht tot. Er lebte noch, wie der Dämonen-Gebieter beabsichtigt hatte. Nach und nach verlor die Droge aus der Unterwelt ihre Wirkung, er bewegte sich und wachte auf. Dann spürte er den offenen Berghang, das Sternenlicht. Als er sich erinnerte, was vorgefallen war, rief er Ferashins Namen. Sie antwortete ihm nicht. Der blinde Mann richtete sich auf und streckte seine Hand aus, und so fand er sie. Er nahm sie in die Arme und entdeckte sofort, daß alles Leben aus ihr gewichen war.
Ein Jahr lang hatte er vollkommenes Glück gekannt, nun kannte er vollkommenes Leid. Er verstand die List, daran besteht kein Zweifel. Vielleicht dachte er wieder an den Schlaffluß und an eine Reise zu Asrharns Palast, aber dann verwarf er es, denn diesmal würde Asrharn keine Milde zeigen, da dies seine Rache an ihnen war. Kasir sah im Geist Ferashins Seele, ihre Blumenseele, verloren auf der nebligen Schwelle des Todes, wie sie allein suchend dahinwanderte und vergeblich nach der seinen rief. Obwohl er voller Schmerz war, so schauderte ihm beim Gedanken, was ihr Schmerz, ihre Angst und Verlust erst sein mußten.
Ein kleines Dorf lag hinter dem Hügel, und alsbald kamen Menschen den Abhang entlang, die auf diesem Weg nach Hause gingen. Als sie den schönen, blinden Fremden sahen, der das schöne, tote Mädchen in den Armen hielt, waren sie von Mitleid und Schmerz ergriffen. Bevor der Mond aufging, hatten sie an dem kleinen Bach ein Grab für Ferashin gegraben und sie sanft hineingelegt und mit Erde bedeckt, und ihr Priester hatte über ihren Leib Worte des Trostes und Gebete gesprochen, wie er sie kannte. Sie flehten Kasir an, mit ihnen zurückzugehen; jeder einzelne von ihnen wäre froh gewesen, ihn zu beherbergen und sich um ihn zu kümmern, aber er wollte den Erdenflecken nicht verlassen, unter dem sie lag. Als sie ihn wiederholt baten, begann er von seiner Liebe zu ihr und ihrer Liebe zu ihm zu singen, von dem vollkommenen Jahr und der Verzweiflung, die darauf folgte. Die Töne überfluteten seine Kehle wie Tränen, doch er weinte nicht; sein Leid war zu grausam für Tränen. Nur die Leute vom Dorf weinten, und da sie ihn verstanden, ließen sie ihn, damit er allein und in Stille trauern konnte.
Die ganze Nacht saß er an ihrem Grab. Eine Nachtigall ließ sich in einem Baum nieder, und ihr Gesang ertönte, aber er hörte es nicht.
Um die Morgendämmerung sank er in Schlaf.
Er träumte.
Er träumte von der Zauberin, die er getroffen hatte, die ihn hinuntergeschickt hatte in die Unterwelt, damit er Ferashin fordern konnte, von der alten Frau mit dem Ring.
»Also Asrharn hat dich überlistet«, sagte sie, »und deine schöne Frau mit dem Weizenhaar liegt unter der Erde. Na komm, wo sonst sollte eine Blume liegen, wenn ihre Blütezeit zu Ende ist? Der Prinz der Dämonen hat seinen Zauber, und du hast den deinen, den Zauber deiner Lieder. Du hast ein Jahr mit Ferashin verbracht, nun warte ein Jahr an ihrem Grab, wenn du die Geduld aufbringst. Bringe Wasser vom Bach und sprenge es über das Grab,
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