Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herr der Nacht

Herr der Nacht

Titel: Herr der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
Vom Netzwerk:
jäte das Unkraut, das da wächst. Aber am besten von allem, singe jeden Tag an ihrem Grabhügel, wie sehr du sie geschätzt hast. Sei gewissenhaft darin und wer weiß, wie dein Garten gedeihen wird.«
    Kasir erwachte wieder, als die Sonne den Himmel verfärbte; er fühlte sie auf seinem Gesicht wie die Berührung einer freundlichen, warmen Hand.
    Die Leute, die sich um ihn Sorgen machten, hatten ein bißchen Brot und etwas Milch in einer Schale dagelassen. Kasir leerte die Schale – vielleicht trank er die Milch, vielleicht schüttete er sie auch nur auf den Boden. Er ging zum Bachufer, wobei er sich wie immer mit dem Stab vorantastete. Dort füllte er die Schale, trug sie zum Grab und begoß es, wie einer eine Blume gießen würde. Dann setzte er sich daneben und begann wieder zu singen, das erste von vielen Liedern an Ferashin unter der Erde.
    »Er ist verrückt, der Blinde«, sagten die Leute im Dorf. »Sein Kummer hat ihn wahnsinnig werden lassen. Er will sich nicht vom Grab fortbewegen. Er bringt jeden Morgen Wasser zu ihm, wenn es heiß ist, zweimal. Er hat einen Weg zum Bach ausgetreten von all dem Hin und Her. Er hat sich eine Hütte aus Lehm und Blättern gebaut. Er singt je einmal in der Morgendämmerung und um Mitternacht zu der Toten.«
    Doch sie hatten die Macht seiner Musik vergessen, die sie um ihn hatte weinen lassen. Ein Mann hatte eine kleine Tochter, die krank wurde und nicht essen wollte, und er näherte sich Kasir in der Morgenfrische und bat inständig, daß er kommen möge und sie mit einer Geschichte oder einem Lied aufmuntere. Kasir ging hin, Kasir sang: das Kind lachte und wurde in derselben Stunde gesund. Danach baten sie Kasir oft, ihnen zu helfen. Mochte er auch verrückt sein, so war er doch auch Poet und Heiler. Er wuchs ihnen sehr ans Herz und sie würden ihn in Zeiten der Fülle mit Geschenken überhäuft haben, aber er nahm nichts außer einer geringen Menge an Nahrung und das Recht, Ferashins Grab zu pflegen.
    Monate vergingen. Am Mittag rief ein Schäfer, der mit seiner wolligen Schulklasse um sich herum an der Hütte vorüberkam, Kasir zu: »Da wächst etwas, wo deine Geliebte liegt.«
    Kasir streckte die Hand aus und berührte sanft den Schößling.
    »Ah, Ferashin, du Sonne meiner blinden Welt …«
    Bald fingen die Dörfler von neuem an zu reden.
    »Da wächst ein junger Baum auf ihrem Grab. Ein Baum mit lauter silbrigen Blättern. Er sieht aus wie ein Baum für Blüten, aber es gibt keine.«
    Monate reihten sich an Monate. Winde kamen und gingen, warme Winde oder kalte, und schüttelten die Blätter des blütenlosen Baumes und zausten im bleichen Haar des Poeten, der darunter sang. Das Jahr wurde auf dem Webstuhl gewoben, beendet, zusammengefaltet und auf den Haufen anderer Jahre in den großen Truhen der Zeit verstaut.
    In jener Nacht brachte der Poet kein Wasser zum Baum. Er weinte, und die Tränen fielen herab, um seine Wurzeln zu nähren, wie seine Lieder herabgefallen waren, um sie zu nähren.
    Um Mitternacht fand eine Veränderung statt. Schwer zu bestimmen, dieser Wandel: er fühlte ihn wie einen Gezeitenwechsel. Kasir berührte den Baum und fand unter seiner Rinde einen Traum sich winden und wiegen.
    »Eine Blüte«, flüsterte Kasir dem Baum zu, »nur eine.«
    Er konnte es nicht sehen, aber er wußte es: das Anschwellen des silbrigen Etwas auf seinem Stengel, das Aufbrechen dieses Silbers; der violette Kelch darinnen entfaltete sich, Blütenblatt um Blütenblatt, bis das Innerste offenlag.
    *
    Sie war an einen düsteren, bleichen Ort gelangt. Es war ein Geisterort, die Schwelle von Tod und Leben. Warum dort Geheimnisse wucherten, konnte sie kaum sagen. Halbgeformte Seelen, die danach schrien, geboren zu werden, Seelen, wild vor Angst oder Wut, die wie graue Feuer in die Befreiung von jeglicher Existenz zerplatzten.
    Ferashin stand ganz ruhig in den fließenden Nebeln und rief nach Kasir. Er antwortete nicht. Keine Hand ergriff die ihre, keine Stimme aus Sonnenlicht erhellte die Dunkelheit. Nur die Schatten flatterten um sie wie Fledermäuse.
    »Kasir, Kasir«, rief Ferashin, aber nur die Laute der Fledermaus-Flügel ertönten: »Komm, komm«, pfiffen sie, »folge uns auf der großen und schrecklichen Reise!«
    Und dunkle Seelen, die noch durch kranke Körper oder grausame Leben eingezwängt waren, zischten: »Komm mit, du kannst hier nicht verweilen. Hier ist kein Ort für dich. Hier wirst du alles vergessen, alles, was du gewesen bist und alles, was du sein

Weitere Kostenlose Bücher