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Herr der Nacht

Herr der Nacht

Titel: Herr der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
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ausdehnte, bis es an allen Seiten die blauen Gestade des Meeres erreichte. Es wurde berichtet, daß sogar der Löwe ihm aus dem Weg ging.
    Mit der Zahl seiner Jahre nahm auch seine Prahlsucht zu, und da sie auf ihm lastete, wurde er vielleicht auch ein bißchen verrückt. Er verlangte massiven Tribut von seinen Vasallen und ließ sich einen Tempel bauen, und all seine Untertanen waren verpflichtet herzukommen und ihn als Gott zu verehren.
    Goldene Statuen von Zoraschad wurden in Zojad und jeder der eroberten Städte errichtet und mit Gold beschriftete Tafeln aus schneeweißem Marmor darunter aufgestellt. »Hier siehst du mit Schrecken Zoraschad, den Mächtigsten der Mächtigen, Beherrscher der Menschen und Bruder der Götter, der unter dem Himmel nicht seinesgleichen findet.«
    Die Leute wunderten sich darüber und zitterten, da sie jeden Augenblick erwarteten, daß die Götter die Städte wegen dieser Gotteslästerung mit Pest oder Donner und Blitz strafen würden. Aber die Götter betrachteten in jenen Tagen die Taten der Menschen in etwa, wie Menschen immer die Possen sehr kleiner Kinder betrachtet hatten. So drohte wenig Gefahr vom heiteren Land der Überwelt, wo zweifellos weiterhin erhabene Gleichgültigkeit herrschte. Gefahr drohte, aber sie hatte eine andere Gestalt.
    Aus einem Einfall Zoraschads war eine Gewohnheit geworden, daß er, wenn er des Abends mit seinen Adeligen feierte, einen hohen Stuhl sich gegenüber an die Tafel bringen ließ, der aus Knochen geschnitzt war. Er nannte ihn den Stuhl der Ungewißheit. Jeder konnte darin sitzen, sei er ein reicher Mann, Prinz oder Bettler, freier Mann oder Sklave; selbst der Mörder und der Dieb konnten sich an des Königs Tafel niederlassen, die ausgesuchtesten Speisen von goldenen Tellern essen und die feinsten Weine aus Kristallpokalen trinken, und niemand konnte sie davon abhalten oder Gericht über sie halten. So hatte es Zoraschad verfügt. Aber wenn das Fest zu Ende war, fügte Zoraschad ihm zu, was er wollte: Gutes oder Übel, entsprechend seiner Laune; denn dies glich, nach Zoraschads Erklärung, der Ungewißheit, welche die Götter über den Menschen während seines Lebenswegs verhängen, daß er nicht weiß, ob Vergnügen oder Schmerz, Demütigung oder Triumph oder Vernichtung sein Schicksal sei. Manche, die in dem Knochenstuhl saßen, mochten Glück haben; der Gottkönig gab ihnen kostbare Metalle oder Edelsteine, die sie behalten durften. Diese gingen fort und segneten ihn, froh darüber, daß sie ihr Glück versucht hatten. Einige ließ Zoraschad in die Haut eines wilden Esels nähen und mit Peitschenhieben durch die Straßen treiben, bis es dunkel wurde. Andere übergab er dem Henker. Es machte keinen Unterschied, von welchem Stand der Gast war, oder welches seine Verdienste waren. Manchmal starben der Hochgeborene oder der Tugendhafte schrecklich, während der Mörder lachend mit einem Hut voller Smaragde davonzog. Es war ein Stuhl der Glücksspiele, und die meisten Spieler waren verzweifelte Menschen, die alles für besser hielten als das Leben, das sie in ihrer Lage zu leben gezwungen waren. Doch gelegentlich kam ein Weiser, der dachte, er könne den König überlisten und dadurch im Land berühmt werden. Mehrere ließen ihre Köpfe, die an seinen Toren aufgespießt wurden. Man kann annehmen, daß der Knochenstuhl im allgemeinen leerstand.
    Eines Abends, als die Sonne eben untergegangen war, betrat ein Fremder die Stadt Zojad, ein großer Mann, der in einen schwarzen Umhang gehüllt war. Er ging lautlos wie ein Schatten durch die Straßen, aber als er an die Palasttore kam, wo die Wachen mit gekreuzten Speeren standen, fingen die Hunde des Königs in ihren Zwingern an zu heulen, die Pferde in den Ställen zu stampfen und zu wiehern und die Falken in den Mauserkäfigen zu kreischen. Die aufgeschreckten Wachen schauten sich in aller Eile um; als sie wieder auf die Straße sahen, war der Fremde verschwunden.
    Er war in Zoraschads leuchtendem Saal. Der Glanz von zweitausend Kerzen spielte auf seinem Umhang und konnte ihn nicht durchdringen. Er schritt den Raum hinauf, und die Sängerinnen verstummten, um ihn vorbeigehen zu sehen, selbst die prächtigen Vögel in ihren Goldkäfigen hörten auf zu singen: sie steckten ihre Köpfe unter die Flügel, als ob sie das Nahen des Winters spürten. Der Fremde hielt vor König Zoraschads Tafel.
    »Ich bitte um eine Gefälligkeit, o König«, sagte er. »Im ungewissen Stuhl sitzen zu dürfen.«
    Zoraschad

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