Herr der Nacht
aber die Menschheit brauchte sie nicht zu fürchten, wenn die Menschen nur mutig sein wollten. Ich werde den Diamanten und auch das Gehäuse mit dem Spiegel nehmen. Denn wenn auch kein Mensch in den Spiegel zu schauen wagt, ich wage es. Komm, hör auf, da unten herumzukriechen, und hole es für mich herunter, wenn du kein Schwächling bist.«
Mirrasch gehorchte ihr. Er schwankte unter dem Gewicht des Spiegels, aber er setzte den geschlossenen Kasten vor ihre Füße und versuchte dann, ihren Mund zu küssen, der ebenfalls verschlossen blieb. Sie stieß ihn von sich.
»Du bist nur ein Hund«, sagte sie. »Sei zumindest nicht weniger.«
»Herrin, nimm dich in acht vor dem Spiegel, er wird dir ein Leid zufügen. Laß mich wieder zu dir liegen, ich verbrenne … hab’ Mitleid …«
»Du bist mein Mitleid nicht wert«, sagte sie. »Du bist ein Narr.«
Sie schnalzte mit den Fingern. Mit einem Brausen kam ein Wagen herangefegt, der von schwarzen Schwänen mit Schlangenköpfen gezogen wurde, und trug sie und ihre Beute davon.
Mirrasch stand allein im Garten. Bald darauf ging er zu dem Teich. Ein kleiner Sperling, der mit Hilfe von Zauberei dazu abgerichtet war, bestimmte Worte zu sprechen, sträubte seine Federn, als Mirrasch sich zum Wasser hinunterbeugte und seine Augen wusch. Die Binde war eine List gewesen. Bevor er das Bettgemach betreten hatte, hatte er sich eine bestimmte Flüssigkeit in die Augen geträufelt, die seine Sicht trübte und entstellte. Alle Dinge waren ihm in dieser Nacht als krankhaft rote, unfertige Mißbildungen erschienen, manchmal in die Länge gezogen, dann wieder aufgedunsen, wie durch ein gekrümmtes Kristall gesehen. Selbst das wunderbare Gesicht Zorayas’ war ihm so erschienen. Obwohl ihre Berührung ihn entflammt und ihr Leib ihm große Wonne bereitet hatte, hatte jene verheerende Unterwürfigkeit, die von ihrem Gesicht ausging, ihn verfehlt wie ein danebengeschossener Pfeil.
Wahrlich, dachte er, ihr Gesicht hatte in dieser Nacht ihrem Charakter entsprochen. Wenn sein Bruder Jurim sie nur in solcher Gestalt gesehen hätte.
*
Zorayas schlug den Diamanten heraus und hängte sich ihn um den weißen Hals. Sie verlor keine Zeit damit, seine Kräfte zu erforschen; sie war zu sehr an dem verborgenen Spiegel interessiert, der seinen Rahmen gebildet hatte.
Sie traf gewisse Vorbereitungen. Sie war stolz, aber nicht dumm. Sie spürte bereits ein großes Energiefeld in dem Oval aus blauem Metall, eine Macht, die danach strebte, das Gehäuse zu durchdringen und jeden zu erleuchten, der ihr entgegentreten würde. Eine endgültige Wahrheit. Wer sehnte sich nicht danach? Sie konnte ihrem Namen noch mehr Schrecken verleihen, als er jetzt schon in sich trug. Und auch in ihren eigenen Augen würde sie wachsen. Zorayas, die schönste und weiseste Frau der Erde, Geliebte des Dämonenprinzen, Besitzerin der Endgültigen Wahrheit. Wie für viele vor und nach ihr, deren Selbstvertrauen in ihrer frühesten Jugend zerrüttet wurde, hatten nicht einmal die hellen Bausteine des Erfolgs ein festeres Haus für sie bauen können. In ihrem Innern, im tiefsten Grund ihrer Seele und ihres Gemüts, war sie, ihr selbst unbewußt, immer noch eine schwache Stimme, die nach einem neuen Ruhm rief, um ihre Verletzungen zu lindern. Sie mußte die Besten übertreffen, niemand durfte sich ihr widersetzen, sie mußte besiegen, was andere nicht anzublicken wagten, mußte Meere austrinken und Berge niedertrampeln. Sie würde niemals ruhen, bis der Tod, die letzte Schlacht, all ihre Siege der Lächerlichkeit preisgab.
Sie ging zu ihrem Kupferturm. Innen und außen zog sie Zauberkreise mit Worten, Talismanen und Symbolen der Geheimwissenschaften. Sie verbrannte Duftkräuter und besprenkelte den Boden mit Wein und Blut und zeichnete darauf die Zeichen der Macht. Sie reinigte ihren Leib, badete und ölte sich und sprach schützende Worte. Sie stand nackt da, die schöne Zauberin, ihr langes Haar war ohne Juwelen und fiel von ihr herab wie ein brennender Busch wilder Rosen. Sie ölte die Scharniere des blauen Metallgehäuses, sie schob eine flache Messerklinge zwischen die Hülle und ihren Inhalt. Sie öffnete die Klammern.
Sie trat zurück, und der hohe Spiegel in Menschengröße, der endgültige Wahrheit enthielt, öffnete sich.
Anmaßend und ohne mit der Wimper zu zucken starrte sie in den kalten Glanz des Glases.
Und sah …
Bloß ihr Spiegelbild.
Zorayas’ Mund wurde weiß, sie preßte die Hände zusammen. Sie
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