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Herr der Nacht

Herr der Nacht

Titel: Herr der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
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Schlange.
    Sie konnte in jenen drei Tagen und Nächten keine Schönheit entdecken, die mit dem verglichen werden könnte, was sie im Spiegel gesehen hatte, noch flößte ihr irgendeines ihrer Spiele eine solche Furcht ein wie jene, die ihr Innerstes ergriffen hatte, als sie vor ihrem eigenen Bild floh.
    In der dritten Nacht rief sie Musiker, die für sie spielen mußten. Die Musik erinnerte sie an einen anmutig tanzenden Frauenleib. Weiße Pfauen stolzierten durch den Garten, ihre Farbe rief die Erinnerung an ein anderes Weiß hervor, das Weiß von ihrem eigenen Fleisch. Zorayas klatschte in die Hände. Man brachte ihre Sammlung wilder Tiere. Sie ging zu den riesigen, goldenen Käfigen. Gefleckte Panther mit Augen aus grünem Kupfer, zinnoberrote Tiger mit Augen aus Zinkblüte. Und in den Augen eines jeden von ihnen eine winzige Spiegelung.
    Ein schreckliches Verlangen bohrte in ihr, das sie befriedigen mußte: noch einmal in jenen großen Spiegel zu schauen. Vielleicht hatte ihre Einbildung, ihr eigener Zauber, ihn mit Eigenschaften belegt, die er gar nicht besaß. Ja, das war es zweifellos. Wenn sie den Kupferturm aufsuchte und das blaue Metallgehäuse öffnete, würde sie einfach einen großen und strahlenden Spiegel vorfinden, eine Schmeichelei gegenüber ihrer außergewöhnlichen Schönheit, aber nichts weiter.
    Der Mond war untergegangen. Sie stieg die Stufen im Turm im Dunkeln empor und trat durch die Tür ins Dunkel des Zaubergemachs. Das Gehäuse des hohen Spiegels glühte wie ein erstarrter blauer Blitz. Zorayas durchquerte den Raum, öffnete die Klammern und trat zurück, um den Spiegel aufschwingen zu lassen.
    Sie brauchte keine Lampe. Der Spiegel schimmerte, glitzerte. Etwas Wunderbares blickte ihr entgegen.
    Zorayas lächelte, sie konnte nicht anders. Das Bild im Spiegel lächelte.
    Zorayas hielt den Atem an, das Bild desgleichen.
    Von unwiderstehlichem Drang getrieben, machte Zorayas drei Schritte auf das Bild zu, das Bild machte drei Schritte auf Zorayas zu. Sie starrten sich mit geöffneten Lippen und weit aufgerissenen Augen an. Die Hände des Bildes glitten nach unten und lösten die Spangen des goldenen Kleides. Zwei weiße Monde erhoben sich aus der goldenen Seide. Das Bild im Spiegel flüsterte: »Komm näher, Geliebte, komm näher!«
    Zorayas starrte auf das Bild, dann auf ihre eigenen Hände: immer noch an ihrer Seite, ihre eigenen Brüste: von Seide bedeckt. Das Bild hatte etwas getan, was sie nicht getan hatte. Das Bild hatte gesprochen.
    »Wer bist du?« rief Zorayas, »und was bist du?«
    »Du«, flüsterte das Bild. »Komm zu mir, meine Geliebte! Ich sehe dich und schmachte und vergehe nach dir, Geliebteste der Geliebten.«
    Zorayas zitterte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, sie konnte nicht atmen. Bevor es ihr selbst klar wurde, war sie mit ausgestreckten Armen den halben Weg zum Spiegel geeilt. Ein paar Schritte mehr, und sie konnte sich wieder gegen jene vertrauten Täler und Hügel pressen, jene liebliche Landschaft, die sie besser kannte als alle Länder, die sie erobert hatte, besser als jeden Liebhaber, zu dem sie sich je gelegt hatte. Aber sie zwang sich dazu, innezuhalten, bevor die Hände, die sich ihr entgegenstreckten, ihre eigenen berühren konnten.
    Zorayas rannte wieder aus dem Zauberturm und verschloß die Tür hinter sich. Sie weinte. Es war mehr ein Gefühl der Trostlosigkeit denn von Versagen oder Furcht, mit dem sie die Treppen hinunterstieg.
    Sie warf den Schlüssel zur Turmtür in einen tiefen Brunnen.
    *
    Mirrasch hatte den Spiegel einzig und allein für Zorayas angefertigt. Er war in kalten Feuern geschmiedet und mit brennenden Worten geformt worden. Mirrasch war selbst ein Zauberer geworden; die alten Bücher lehrten ihn, da er sich seiner Aufgabe verschrieben hatte. Es war nicht so sehr Rache, die ihn antrieb, als das Bedürfnis, die Welt von der Bosheit Zorayas zu befreien. Jurim war tot, aber es gab andere Jurims, die Zorayas’ Beute werden würden, wenn sie am Leben bliebe. Er hatte einige Zeit über der Erzählung des Geschichtenerzählers gegrübelt und auch über der Frage, ob der alte Mann wirklich ein Geisterbote gewesen war, der aus der Vorhölle der Seelen ausgebrochen war, um zu warnen und zu raten, oder bloß ein kluger und gut unterrichteter Mann.
    Auf jeden Fall hatte die Geschichte gepaßt: Schönheit mißhandelt ihren Anbeter und bringt, von ihrem eigenen Anblick verführt, sich selbst den Tod.
    Wie die Schlange auf ein Bildnis gestoßen

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