Herr der Nacht
an das Palasttor, dessen Riegel alle vorgeschoben und gesichert waren. Jemand schlug an das Eisen des Tors und weinte und rief um Hilfe. Schließlich öffnete ein Pförtner auf Anweisung des Haushofmeisters das Tor einen Spalt breit und zog ein zerzaustes Geschöpf in die Einfriedung des Innenhofes. Es schien ein armes Tanzmädchen zu sein, das von einer Karawane verlorengegangen war. Ihr billiges Flitterwerk war zerlumpt, ihr Körper voller Schürfwunden und blutend vom rauhen Sand, ihr Gesicht war von Staub und Tränen unkenntlich und ihr in Wellen herabfallendes, staubiges Haar von tiefstem Schwarz. Sie huschte in den Hof, küßte die Füße des Pförtners und danach die Füße des Haushofmeisters, der sie vor solch einem abscheulichen Tod im Sturm errettet hatte.
Wenige Diener waren im Palast verblieben, die meisten waren mit den Reichtümern gegangen. Der alte Haushofmeister führte die Tänzerin zu einem abgelegenen Zimmer, zeigte ihr ein Sofa und Wasserkrüge und ließ ihr Brot und Wein vorsetzen. Das Mädchen dankte ihm das eine ums andere Mal.
»Bitte sagt mir«, sagte sie, »wer ist euer Herr, daß ich seinen Namen auch segnen möge.«
»Mein Herr ist Mirrasch, der von schwerem Leid betroffen wurde. Jeglicher Segen, ob groß oder klein, würde ihm frommen.«
»Und ist sein Herz schwer vor Kummer? Hat er vielleicht jemanden verloren, der ihm teuer war? Guter Herr«, sagte das Mädchen und senkte bescheiden den Blick, »ich gebe jetzt einen kümmerlichen Anblick ab, aber erlaubt mir nur, daß ich mich bade und zurechtmache, und dann laßt mich das Bettgemach Eures Herrn aufsuchen. Ich habe als Teil meiner Kunst viele wunderliche Arten der Liebe gelernt. Schlagt es mir nicht ab, denn es ist mein sehnlichster Wunsch. Wenn Ihr es für richtig haltet«, fügte sie hinzu, »will ich zuerst Euch vorführen, was ich vollbringen kann.«
Der alte Haushofmeister hatte das Alter für solche Übungen überschritten und schlug statt dessen vor, daß er sich damit zufrieden geben wolle, der Tänzerin bei ihrem Bad zuzusehen. Sie stimmte zu, und der Haushofmeister wurde aufs angenehmste belohnt, denn obwohl er durch ihr dichtes Haar niemals ihr Gesicht richtig zu sehen bekam, hatte er einen ausgezeichneten Ausblick auf alles übrige, und das Mädchen war von außergewöhnlicher und unwiderstehlicher Schönheit. Schließlich wurde er geradezu leutselig und ließ sich von ihr dazu überreden, sie ohne das Wissen Mirraschs in dessen Bett zu bringen, um dort den Prinzen zu erwarten.
›Gewiß‹, dachte der Haushofmeister, als er die saftige Jungfer im Bettgemach verstaute, ›werde ich dafür eine Belohnung bekommen.‹
Mirrasch hatte einige Monate hindurch den größten Teil der Tage in der großen Bibliothek des Hauses zugebracht, doch zuweilen schloß er sich in einem Kellerraum des Palastes ein, den er jederzeit sorgfältig verschlossen hielt. Aus diesem Raum konnte man gelegentlich eigenartige Geräusche und Moschusdüfte wahrnehmen und das Flackern von seltsamen Lichtern. In dieser Nacht kam Mirrasch ebenfalls spät aus dem Keller in sein Bett, und man kann annehmen, daß die ungeduldige Tänzerin des Aufschubs überdrüssig war.
Die Lampen brannten schwach. Mirrasch betrat das Zimmer, entledigte sich seiner Kleidung und ging schlafen. Kaum lag er im Bett, als er eine geschmeidige Berührung spürte und sich sofort wieder aufrichtete.
»Erschrick dich nicht, mein Gebieter«, sagte eine süße Stimme an seinem Ohr, »ich bin deine Sklavin und bin hier, um dir freudig aus meiner Liebesquelle zu spenden.«
Darauf legte Mirrasch sich zurück und sagte: »Sei willkommen in meinem Leben, wer immer du auch seist.«
Dann, als das Mädchen sein Gesicht im roten Schimmer der Lampen erforschte, fuhr sie erschreckt zurück, denn die Augen Mirraschs waren mit einem Tuch verbunden.
»Wie, mein Gebieter, ist das irgendein Spiel?«
»Beileibe nicht«, sagte Mirrasch, »ich bin erblindet!«
Die streichelnden Hände der Tänzerin lagen still.
Eine neue List? sagte sie bei sich. »Wie kann das sein?« fragte sie laut.
»Ich habe mich einer mächtigen Zauberin widersetzt«, sagte Mirrasch, »Zorayas von Zojad, vielleicht hast du ihren Namen schon gehört? Die Dämonen lieben sie. Sie griffen mich zu ihrer Belustigung an und blendeten mich.«
Die sanften Finger von Mirraschs Bettgefährtin waren nach oben geklettert und machten sich an der Binde zu schaffen.
»Komm, mein Gebieter, laß mich sehen. Ich habe ein wenig
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