Herr der zwei Welten
Hauch von Angst! Ja, wusste sie denn nicht, dass die Arme, die sie umschlangen, einem Ungeheuer gehörten? Unvorstellbar!
Die beiden hielten sich noch immer umschlungen. Keiner von beiden sagte ein Wort. Ihre Gefühle flossen wie das Wasser eines starken Stromes von einem zum anderen. Sie brauchten keine Worte!
Lieber Gott, bitte lass es keinen Traum sein! Ich ertrage es nicht, dich wieder zu verlieren! Dachte Julie verzweifelt.
Eugeñio legte seine Fingerspitzen unter ihr Kinn und hob es zärtlich an.
„Das wirst du nicht! Es ist kein Traum. – Kein Treffen der Geister. Julie, ich bin hier! Ich verspreche dir, ich werde dich nach Hause bringen!“
Es waren die ersten Worte, und diesmal hatte er seine Lippen bewegt! Er war hier! Nicht so, wie damals, als sie ihn im Traum sah. Er war echt! Julie wusste nicht, wie sie ihre Freude zum Ausdruck bringen konnte! So glücklich war sie! Dennoch ließ sich die Angst, ihn wieder zu verlieren, nicht so einfach abschalten. Sie sah in seine fast schwarzen Augen. Sein Blick schenkte ihr Zuversicht. Langsam begann sie zu vertrauen. Lächelnd zog sie ihn wieder an sich. Sie wollte ihn spüren. Sie vergrub ihr Gesicht in seiner Halsbeuge und klammerte sich an ihn. Minutenlang standen die beiden so da. Keiner wollte den anderen wieder loslassen!
Gaston stand nur da und beobachtete. Die anfangs gespürte sarkastische Bosheit wich einem anderen Gefühl. Einem Gefühl, das stark an Neid erinnerte. Gaston registrierte seine Gefühle. Er begann Eugeñio sein Glück zu neiden, und er begann sich selbst gleichermaßen zu bedauern. Energisch schnippte er diesen Gedanken beiseite! Er beneidete niemanden, und schon gar nicht, um so etwas Banales, wie Liebe! Dennoch konnte er nicht verhindern, dass er sich vorstellte, wie es denn sein musste, selber so etwas wie Liebe zu empfinden. Ja, damals, als er selber noch ein junger Sterblicher gewesen war …!
Aber so etwas widerfuhr Leuten wie sie es waren wohl nicht gerade häufig! Sie waren Kinder der Nacht! Bluttrinkende, nächtliche Schatten! Gaston zog seufzend die Luft ein. Seine Augen schlossen sich für Minuten, in denen er sich diesen Erinnerungen hingab. Jäh befiel ihn ein Schrecken!
Aufgebracht rief er nach Eugeñio.
„He schau! Die Sonne, sie wird bald aufgehen. Wir müssen reingehen. Sonst wirst du wohl dein Versprechen, ihr zu helfen, nicht mehr halten können!“
Julie riss erschrocken die Augen auf. Schnell machte sie sich aus Eugeñios Umarmung frei. Sie wusste ja, dass die Strahlen der Sonne für den Mann, den sie liebte, den sicheren Tod bedeuteten. Es war unvorstellbar, aber die Sonne war der einzige, mächtigste Feind, den ihre Liebe hatte! Julie erschauderte.
„Ich helfe euch!“ rief sie aufgeregt, und schob Eugeñio wieder in die Höhle zurück. Schnell machte sie sich daran, die Zweige und Blätter wieder vor den Eingang zu ziehen. Sie wollte den Eingang wieder lichtdicht verschließen, doch Eugeñio hielt ihren Arm fest.
„Du musst jetzt gehen. Wir werden uns morgen wiedersehen! Wenn die Sonne untergegangen ist, werde ich hier auf dich warten. – hab keine Angst mehr, ich bin hier und ich werde dich nicht wieder allein lassen!“
Er strich ihr zärtlich über die Wange, doch in Julies Augen traten wieder Tränen.
„Nein! Bitte nicht!“ schluchzte sie. „Bitte schick mich nicht schon wieder fort. Lass mich bei dir sein! – Ich werde Wache halten, dass euch niemand stört. Eugeñio bitte! Ich schwöre es dir! Bitte, bitte, ich kann nicht schon wieder ohne dich sein!“
Der Mann in ihm konnte ihre Gefühle gut verstehen; schließlich fühlte er dasselbe. Es tat ihm im Herzen weh. Aber dennoch: Nein! Sie hatte ja keine Ahnung, auf was sie sich da einlassen wollte! Außerdem verspürte auch er Angst. Angst ihre Liebe und ihr Vertrauen zu verlieren, wenn sie erst mehr über ihn, den Vampir, lernen würde, als sie ohnehin schon wusste! Sollte er ihr vielleicht erlauben, den ganzen Tag bei einem Toten zu verbringen? Lächerlich! Niemals! Was würde sie dann am Ende des Tages noch für ihn empfinden?
Er wusste, dass das sehr eigennützig von ihm war. Hätte er denn nicht, ganz im Gegenteil zu dem, was er wollte, die Wahrheit zeigen müssen? Sie sollte sich vor ihm fürchten! Doch er wollte sie doch nach Hause bringen, sagte er sich. Wie sollte er das bewerkstelligen, wenn sie vor ihm weglief?
„Nein. Bitte verstehe mich! Ich kann es dir nicht erlauben! Glaube mir doch, es werden nur noch die paar Stunden
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