Herr der zwei Welten
einen Traum. Ich träumte …“
„Du hattest einen Traum?“ Gaston konnte sich trotz Warnung ein Lachen nicht mehr verkneifen. Zwar ließ er all seinen sonst so üblichen Sarkasmus beiseite, aber dass er Eugeñio jetzt wirklich für verrückt hielt, war nicht zu übersehen. Der Spanier konnte seine Gedanken lesen, als wären sie in Stein gemeißelte Worte. Nie und nimmer würde er ihm Glauben schenken. Trotzdem sagte er jetzt nur sehr ernst:
„Eugeñio, verflucht! Vampire sind tagsüber tot! Sie träumen nicht!“
Doch auch damit hatte Eugeñio gerechnet. Er blieb ruhig.
„Ich träumte dennoch. – Ich hörte, wie sie meinen Namen rief. Und das war am Tage, während ich schlief.“
Er hatte versucht, all seine Überzeugungskraft in die letzten Worte zu legen. Gaston sah ihn nur an. Seine Gefühlswelt geriet durcheinander. Jetzt las Eugeñio auch die Gedanken, mit denen er schon vorhin gerechnet hatte.
Jetzt fragte Gaston sich, was wäre, wenn er wirklich den Verstand verloren hatte. Wie gefährlich wäre das für ihn. Gaston hatte bisher nur von anderen Vampiren gehört, die dem Wahnsinn zum Opfer gefallen waren. Jetzt stellte der Franzose sich die Frage, ob er Stand halten konnte, wenn dieser alte, starke Vampir ihn im Wahnsinn angreifen würde. Und wenn ja, dann wie? Der Spanier war schließlich doppelt so alt wie er selbst. Seine Kräfte waren immens! Aber, vielleicht …? Wäre er dann überhaupt noch lebensfähig? Waren die anderen Vampire, diejenigen, von denen er gehört hatte, nicht auch alle umgekommen? Sie hatten sich dem Licht und den Sterblichen ausgesetzt. Den einzigen beiden Dingen, die einem alten Vampir noch gefährlich werden konnten. Ein Vampir braucht einen scharfen, wachen Verstand, wollte er überleben. Aber was, wenn Eugeñio die Wahrheit sprach? Was würde das dann bedeuten? Für ihn selbst, für Eugeñio und für ihre ganze Art? Gastons Verstand arbeitete fieberhaft. Er merkte nicht einmal, dass Eugeñio seine Gedanken überwachte.
Die ganze Zeit über saß Eugeñio in seinem Sessel. Nicht ein einziges Mal war er aufgestanden. Seine Finger, mit den beiden alten, goldenen Siegelringen, ruhten auf den ledernen Armlehnen. Er beobachtete nur. Er wollte Gaston die Zeit geben, um sich eine eigene Meinung zu bilden. Das war wichtig. Doch jetzt hatte der Franzose schlagartig bemerkt, dass Eugeñio die ganze Zeit über in seinen Gedanken gewesen war. Er hatte in ihnen gelesen wie in einem offenen Buch, und er selbst war es gewesen, der die Seiten für ihn umgeblättert hatte. Das Wissen traf den Franzosen wie das Wasser einer plötzlich aufgedrehten Dusche im Hochsommer. Durch die plötzliche Erkenntnis sichtlich verunsichert, versuchte er seinen Blick zu wenden. Doch das ließ Eugeñio nicht zu. Mit eisernen Zangen hielt er den Blick des andern gefangen.
„Hab keine Angst, du kleiner Feigling!“
Gaston wollte etwas erwidern aber Eugeñio winkte ab.
„Nein! Es ist schon gut. Ich verstehe deine Gedanken sogar. Auch ich bin noch immer ein Kind der Nacht. Vergiss das nicht! Aber es geht hier nicht um deinen Mut, gegen mich anzutreten. Es geht um Julie! Ich bin in keinster Weise wahnsinnig. Wenn es so ist, wie ich denke, wirst du den Beweis dafür schon frühzeitig genug bekommen. Ich will nur wissen, wirst du mir helfen?“
Gaston ließ eine Weile verstreichen, doch dann nickte er.
„Gut, dann morgen Nacht.“ Eugeñio hatte sich blitzschnell aus seiner sitzenden Haltung erhoben. Raubkatzengleich. Er war bereits an der Tür, noch ehe Gaston überhaupt eine Bewegung hatte wahrnehmen können. Dies musste sein. Obwohl Eugeñio Gaston die Entscheidung überlassen hatte, wusste er doch, dass es gut war, wenn er ihm seine Überlegenheit noch einmal demonstrierte. Und wenn es nur durch seine Schnelligkeit war. Eugeñio drehte sich noch einmal um. Diesmal spielte ein überlegenes Lächeln um seine Lippen.
„Ich habe Hunger. – Sei morgen Nacht hier. Sieh zu, dass es dir dann gut geht. Dass du stark bist. Also speise vorher genug.“
*
Sechs Tage waren sie unterwegs gewesen. Sie waren die vollen Tage und meistens sogar die ganzen Nächte hindurchgegangen. Kai und Bernhard trugen die meiste Zeit die Trage mit dem kranken Karon. Obwohl sie kein hohes Gewicht darstellte, wurde es von Meile zu Meile schwieriger das Gestell ruhig zu halten. Die Temperatur hatte sich mittlerweile geändert. Die Tage waren sengend heiß geworden. Sie hatten alle viel zu wenig geschlafen. Rechnete man es hoch,
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