Herr des Chaos
denn Tallanvor und die anderen, daß er so einfach hereinmarschieren konnte?
Die dunklen Augen waren geradewegs auf sie gerichtet, und er machte eine beinahe nur angedeutete Verbeugung. Sein Gesicht war gealtert, die Haut spannte sich straff über die Wangenknochen, aber dieser Mann war so schwächlich wie ein Schmiedehammer. »Morgase von Andor?« fragte er mit fester, tiefer Stimme. »Ich bin Pedron Niall.« Nicht nur irgendein Weißmantel, nein, der kommandierende Lordhauptmann der Kinder des Lichts höchstpersönlich. »Habt keine Angst. Ich bin nicht gekommen, um Euch festzunehmen.« Morgase hatte sich hoch aufgerichtet. »Mich festnehmen? Mit welcher Begründung? Ich kann die Macht nicht benützen.« Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, da hätte sie sich auch schon am liebsten auf die Zunge gebissen. Sie hätte den Gebrauch der Macht nicht erwähnen sollen, aber die Tatsache, daß sie sich so defensiv verhielt, zeigte deutlich, wie verwirrt sie war. Natürlich hatte sie die Wahrheit gesagt, jedenfalls mehr oder weniger. Fünfzigmal versuchen, die Wahre Quelle zu spüren, und sie nur ein einzigesmal wirklich zu finden, und bei diesen wenigen Gelegenheiten schaffte sie es gerade - unter zwanzig Versuchen, sich Saidar zu öffnen - mit Müh und Not einmal einen schwachen Strom der Macht zu fühlen - nein, das war nicht erwähnenswert. Eine Braune Schwester namens Verin hatte ihr gesagt, es sei wohl nicht notwendig, daß sie in der Burg verblieb, um ihre kaum vorhandenen Fähigkeiten in Sicherheit auszubilden. Natürlich behielt die Burg sie trotzdem da. Aber selbst diese mehr als nur geringe Fähigkeit zum Gebrauch der Macht war hier in Amadicia gesetzwidrig und bei Todesstrafe verboten. Der Große Schlangenring an ihrer Hand, der Ailron so faszinierte, erschien ihr jetzt glühend heiß.
»In der Burg ausgebildet«, murmelte Niall. »Auch das ist verboten. Doch wie ich schon sagte, bin ich nicht gekommen, um Euch festzunehmen, sondern um Euch zu helfen. Schickt Eure Frauen weg, und wir werden über alles sprechen.« Er machte es sich bequem, zog sich einen kleinen, gepolsterten Lehnstuhl heran und ließ seinen Umhang nach hinten über die Lehne herunterhängen. »Ich möchte auch etwas Wein, bevor sie gehen.« Zu Morgases Mißvergnügen brachte ihm Breane augenblicklich einen Becher, den Blick zu Boden gerichtet und das Gesicht so ausdruckslos wie ein Brett. Morgase gab sich Mühe, die Kontrolle über die Lage zurückzugewinnen. »Sie bleiben, Meister Niall.« Sie würde diesem Mann nicht die Befriedigung verschaffen, ihn mit einem Titel anzureden. Es schien ihn aber nicht weiter zu kränken. »Was ist mit meinen Männern draußen geschehen? Ich werde Euch verantwortlich machen, wenn ihnen etwas passiert ist. Und warum brauche ich Eurer Meinung nach Hilfe von Euch?«
»Eure Männer sind unverletzt«, sagte er zwischendurch, während er an seinem Punsch nippte. »Glaubt Ehr, Ailron gibt Euch, was Ihr braucht? Ihr seid eine schöne Frau, Morgase, und Ailron liebt Frauen mit goldenem Haar. Er wird sich jeden Tag der Vereinbarung, die Ihr anstrebt, ein bißchen mehr nähern, aber nie wirklich dazukommen, bis Ihr glaubt, daß er sich nach einem ... einem gewissen Opfer ... den letzten Ruck geben wird. Doch er wird dem, was Ihr wünscht, kein bißchen näherkommen, gleich, was Ihr ihm gebt. Die tollen Hunde dieses sogenannten Propheten verwüsten den Norden Amadicias. Im Westen liegt Tarabon, zerrissen von einem Bürgerkrieg unter etwa zehn Parteien, von Briganten, die dem sogenannten Wiedergeborenen Drachen verschworen sind, nun, und dann beunruhigen Gerüchte über die Aes Sedai und den falschen Drachen selbst Ailron in hohem Maße. Euch Soldaten zur Verfügung stellen? Er würde seine Seele dafür verpfänden, wenn er für jeden Mann, den er jetzt unter Waffen hat, noch zehn andere dazufände, oder auch nur zwei. Doch ich kann fünftausend Kinder des Lichts nach Caemlyn entsenden mit Euch an der Spitze, wenn Ihr mich darum bittet.«
Zu behaupten, sie sei vor Überraschung wie betäubt, hätte Morgases Gefühl nur in allzu geringem Maße beschrieben. Mit angemessener Würde schritt sie zu einem Stuhl ihm gegenüber und ließ sich nieder, bevor ihre Knie versagten. »Warum solltet Ihr mir helfen wollen, Gaebril hinauszuwerfen?« wollte sie wissen. Offensichtlich wußte er ohnehin alles; vermutlich hatte er Spione unter Ailrons Bediensteten. »Ich habe doch den Weißmänteln niemals in Andor die Freiheiten
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