Herr: Die Schattenherren 3 (German Edition)
Erscheinung.
Eine eiserne, wellenförmige Einlegearbeit umlief die Halbkugel aus hartem Holz, die auf dem Armstumpf gesteckt hatte. Tatsächlich war sie mit den Knochen von Elle und Speiche verschraubt gewesen, so fest, dass diese gebrochen waren, als Lisanne den Haken von Kirettas Arm gerissen hatte. Stücke von ihnen steckten noch in dem Fragment. An den ausgefransten Enden war leicht zu erahnen, mit welcher Gewalt die Knochen gesplittert waren. Behutsam drückte Bren seine Lippen auf das Einzige, was ihm von seiner Geliebten geblieben war. Ihre Leiche war unauffindbar. Es quälte Bren, sich vorzustellen, was Lisanne damit getan haben mochte. Wann immer er einen Ghoul durch die Gänge des Palasts schlurfen sah, beschlich ihn eine grausige Ahnung.
Als Bren den Haken zurücklegte, fragte er sich, ob er geweint hätte, wenn er noch ein Mensch gewesen wäre. Er hatte niemals einen Osadro weinen sehen. Die Unsterblichen konnten lachen, herablassend oder höhnisch, ihr Gesicht konnte eine Grimasse des Hasses sein. Aber weinen? Vielleicht war das zu menschlich. Er klappte den Deckel zu.
»Führe mich zu den Gardisten«, befahl er dem Seelenbrecher.
Einen Augenblick zögerte der Mann, dann verbeugte er sich und ging voran.
Die Unterkünfte der Osadroi lagen unter der Erde, wo kein Sonnenstrahl sie finden konnte. Sie waren schwer zugänglich und sorgfältig bewacht. Zwar begegneten sie wegen der frühen Stunde keinen Unsterblichen, dafür aber vielen Gardisten, die sich respektvoll vor Bren verneigten, ohne dabei in ihrer Wachsamkeit nachzulassen. Nie sank ein Kopf so tief, dass der Blick die Füße des Gegenübers verloren hätte, und die Hände blieben stets in der Nähe der Schwerter.
Der Seelenbrecher führte ihn einige Treppen hinauf und durch den Wandelgang am Westtor, wo das Sternenlicht statt auf Säulen auf Statuen von Osadroi fiel, die so alt waren, dass Bren die Namen der meisten nicht kannte. Sie standen kerzengerade, ihre steinernen Köpfe stützten die Überdachung. Wiehern erfüllte die Luft, eine Schwadron sammelte sich. Bren erkannte die Stimme des Hauptmanns, der seine Krieger aufforderte, die Halterungen von Waffen und Kampfschilden an den Sätteln zu überprüfen.
»Warte!«, befahl Bren dem Seelenbrecher und trat unter dem Dach hervor. Seine Schuhe knirschten auf dem Kies. Das Geräusch war laut in seinen unsterblichen Ohren, und doch überlagerte es weder das Schnauben der Pferde noch das Knacken der Lederriemen oder das metallische Klappern der Rüstungen. Die Sinne eines Osadro gehorchten anderen Regeln als die eines Menschen. Das galt auch für Brens Nase, die den Schweiß von Tieren und Männern deutlich zu unterscheiden vermochte, während er auf den Befehlshaber des Trupps zuging. Bren atmete von Nacht zu Nacht seltener, aber ganz hatte er es sich noch nicht abgewöhnt.
»Reicht es dir nicht, über die Grenze der bekannten Welt hinausgefahren und zurückgekehrt zu sein, Boldrik?«, fragte er. »Zieht es dich schon wieder fort?«
Erst jetzt bemerkten ihn die Krieger. Sie ließen sich auf die Knie nieder.
»Ich bin ein Mann des Schwerts, General.« Boldrik zuckte zusammen, als er den Fehler in seiner Anrede bemerkte. »Schattenherr.«
»Ja«, sinnierte Bren. »Es ist seltsam, dass es solche wie uns immer wieder zur Gefahr zieht.«
»Ihr sagt es, Herr.«
Bren lächelte wehmütig. Er trug seinen Morgenstern über der Schulter, wie er es gewohnt war, obwohl das der höfischen Kleidung schlecht bekam. »Sprich frei, Hauptmann. Wir haben gemeinsam den Seelennebel durchquert.«
Boldrik ließ den Blick über den Boden wandern, während er nach Worten suchte. »Alles wird unwichtig, wenn man einem Gegner mit dem Schwert in der Hand gegenübersteht, Herr. All die Grübeleien werden bedeutungslos, all die Gedanken an ein Gestern oder ein Morgen verblassen beim Anblick eines Hiebs, der auf das eigene Leben zielt.«
»Ich verstehe dich gut, Boldrik. Wenn der Moment den Unterschied zwischen Leben und Tod macht, werden Pläne und Erinnerungen sinnlos.«
Boldrik sah aus seiner knienden Position auf und blickte ihm in die Augen. »Ja, Herr.«
Wovor läufst du weg, Boldrik?, dachte Bren. Vor den undurchsichtigen Intrigen bei Hofe? Oder vor deinen Ängsten? Vor dem Wissen um deine eigene Sterblichkeit? Du bist zu alt. Niemand wird dich jetzt noch in die Schatten führen.
»Du schließt dich dem Heer gegen die Fayé an?«
»Dort kann mein Schwertarm von Nutzen sein, Herr.«
»Eine gute Wahl. Nicht
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