Herr: Die Schattenherren 3 (German Edition)
entledigt«, murmelte die Nachtsucherin und tippte mit ihrem Stab gegen den Sack. Ein Kinderschädel zierte seine Spitze. »Wessen Leiche mag das wohl sein?«
Sie ging um den Esel herum. Nalaji schluckte trocken. Was, wenn dies die letzten Augenblicke ihres Lebens waren? Oder zumindest die letzten, in denen sie frei von Folterqual einen Gedanken fassen konnte? Wäre dann nicht ein stummes Gebet an die Mondmutter angemessen? Stattdessen dachte sie an Narron. An sein Lächeln. An den Geruch, der ihr in die Nase gestiegen war, wenn sie sich an ihn gekuschelt hatte. Den Druck seines einen Arms, wenn er ihn um sie gelegt hatte. Das Gefühl, sich an die Seite zu schmiegen, an der der Arm fehlte. Nachts hatte sie immer dort gelegen.
Nalaji fasste unauffällig Ungranns zitternde Hand. Die Garde wurde ständig auf ihre Loyalität zum Kult getrimmt. Alles in ihm musste danach schreien, sich der Nachtsucherin zu unterwerfen und ihr zu Willen zu sein. Das wäre ihrer beider Tod. Das gleiche Schicksal mochte sie erwarten, wenn die Klerikerin herausfände, dass Kiretta in dem Sack steckte. Die Rivalität zwischen Lisanne und Bren hatte in den vergangenen Tagen vielen Gerüchten Nahrung gegeben.
Die Nachtsucherin legte eine Hand auf den Sack, berührte Kirettas Rücken. Zum Glück übersah sie das kurze Zucken der Füße auf der anderen Seite des Esels. Kiretta war betäubt, aber nicht völlig bewusstlos.
Warum zögerte die Nachtsucherin? Wirkte sie etwa eines der Rituale des Kults, um den Gegenstand ihres Interesses zu erforschen?
Nalaji fühlte ihren Puls im Hals pochen.
Nein. Die verdorbenen Kräfte der Magie hätte Nalaji gespürt, ebenso wie der Klerikerin kein Gebet verborgen geblieben wäre.
»Du willst mir wirklich nichts verraten, Gardist?«
Ungrann stand erstarrt.
»Es ist keine Frage des Wollens«, raunte Nalaji ihm zu. Sie bohrte die Fingernägel in sein Handgelenk.
»Ich muss …« Seine Stimme versagte.
»So sei es. Ich will deine Treue nicht auf die Probe stellen. Wie gesagt, ich bin auf dem Weg zu Bren. Ich stehe auf seiner Seite, auch wenn er es nicht begreift. Und es freut mich, dass er seinen Weg in die Schatten weitergeht. Soweit ich weiß, ist dies der erste Sterbliche, der seinen Zorn zu spüren bekam. Ich frage mich nur, warum er ihn auf diese Weise aus dem Weg räumt. Nun ja, nicht jeder kann in die Schatten tauchen wie jemand, der von einer Klippe in die Wogen eines schwarzen Meers springt.«
»Ich danke für Eure Weisheit, Nachtsucherin.«
Die bleiche Hand winkte ihn fort. »Das Opfer der Adepta hat Zeit, sie kann noch eine Nacht warten. Geh und tu den Willen der Schatten.«
Übergangslos wechselte Bren vom Schlaf zum Wachen. Das war schon zu Lebzeiten so gewesen. Auf einem Feldzug konnten die Momente, die man in allmählichem Auftauchen aus den Träumen verbrachte, die letzten sein. Aber heute gab es keine Bedrohung. Die Zeit war erreicht, die Sonne war in den westlichen Eisfeldern versunken. Bren richtete sich auf.
Diesmal erwartete ihn kein einfacher Seelenbrecher, sondern Jittara persönlich. Sie hatte eine junge Frau bei sich.
»Was soll das?«, fragte Bren, als er aufstand. Sein Blick fand den Morgenstern in der Halterung, an die er ihn vor dem Sonnenaufgang gehängt hatte. Eine weitere Gewohnheit aus seiner Zeit als Krieger. Er machte sich keine Sorgen, dass Jittara ihm übelwollen könnte. Jedenfalls nicht in so direkter Art, dass die Waffe von Nutzen gewesen wäre.
»Ich grüße Euch, Schattenherr.« Sie neigte das Haupt, während die Frau neben ihr auf die Knie fiel. Sie war sehr jung, keine zwanzig Jahre. Ihr Gewand war schwarz, wie es dem Kult gefiel, ähnelte aber weder in Schnitt noch Stoff Jittaras voluminöser Robe. Es bestand ausschließlich aus Schleiern und offenbarte mehr, als es verhüllte. Die Frau hatte kleine, feste Brüste, die noch nicht einmal eine Männerhand ausgefüllt hätten. Ihre Hüften waren weiblich gerundet, ihre Scham geschoren.
»Du hast meine Frage nicht beantwortet. Brauchen wir sie, um meine Ausbildung fortzusetzen?«
»Euer Fleiß beeindruckt, Schattenherr. Aber bedenkt: Ihr habt Jahrhunderte vor Euch. Die letzte Nacht hat unglaublichen Frevel offenbart. Ich bin sicher, Ihr seid über den Versuch, den Nichtswürdigen Silber zukommen zu lassen, ebenso empört wie wir alle. Da mag es für das Gleichgewicht des Gemüts hilfreich sein, wenn Ihr Euch ein wenig Vergnügen gönnt. Gerade für junge Osadroi ist die Schwermut selten weiter als eine
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