Herr, erbarme dich! - Corin, J: Herr, erbarme dich!
wir das nicht mehr.“
9. KAPITEL
Lilly Toro hätte sich am liebsten übergeben. Sie kurbelte das Fenster ihres VWs hinunter. Die frische Luft half nicht. Sie war in der Parkgarage. Es roch nach Öl und Frust. Wenigstens war sie nicht allein. Dutzende Polizisten und FBI-Agenten waren auf sämtlichen Dächern im Umkreis von zwei Meilen verteilt, alle bewaffnet, alle passten auf sie auf. Ein FBI-Agent ganz besonders: Tom Piper hatte sich auf dem Boden vor dem Rücksitz versteckt, sein großer Körper verdreht wie ein Schnörkel. Die Tatsache, dass die ganze Sache nicht nur für sie äußerst unangenehm war, tröstete sie ein wenig. Aber trotzdem wollte sie sich übergeben.
Sie war Journalistin, verdammt noch mal! Sie sollte gar nicht Teil dieser Geschichte sein! Ja, sie hatte Zugang zur Task Force haben wollen, doch in wenigen Minuten würde ein Massenmörder in der Parkgarage erscheinen und sich ganz und gar auf sie konzentrieren. Die kugelsichere Weste unter ihrem Pulli beruhigte sie auch nicht besonders. Schließlich neigte der Dreckskerl dazu, den Leuten in den Kopf zu schießen.
Was Tom betraf, da irrte Lilly sich allerdings. Seine Stellung war nicht unangenehm. Das Wort „unangenehm“ beschrieb nicht einmal im Ansatz die Schmerzen, die er litt, wobei die meisten von seiner linken Schulter ausstrahlten. Er dürfte gar nicht hier sein. Ein anderer Agent hätte seinen Platz im Auto einnehmen müssen. Das Prozedere verlangte eigentlich, dass er genügend Abstand hielt, um die ganze Operation überwachen und koordinieren zu können. Doch Darcy Parr war tot. Sie hatte zu seinem Verantwortungsbereich gehört. Wenn er nun ein bisschen leiden musste, um den Mörder zu schnappen, sei’s drum.
Was ihn wieder an Esme denken ließ.
Sie war im Rathaus geblieben. Als Tom ein letztes Mal vor dem Einsatz nach ihr schaute, hockte sie auf dem Boden zwischen beängstigend wankenden Papierstapeln. Während ihr hyperaktiver Verstand jede einzelne Information speicherte, bewegte sie die Lippen zu irgendeinem britischen Rocksong, den sie über ihren iPod hörte. Ab und zu steckte sie sich eine haselnussbraune Haarsträhne hinters Ohr. Hatte sie überhaupt eine Ahnung, wie hinreißend sie war? Wusste ihr Mann das? Es war nicht so, dass Tom Rafe nicht mochte. Es war nur …
Ach was! Es stimmte: Tom mochte Rafe nicht.
Nicht etwa aus Eifersucht. Toms Zuneigung zu Esme war in keiner Weise romantisch. Sie war die Tochter, die er nie gehabt hatte. Und wie jeder gute Vater wollte er einfach nur das Beste für seine Tochter. Rafe Stuart war nicht das Beste. Wie sollte Tom einen Mann respektieren, der einen strahlend aufgehenden Stern vom Himmel holte und in einem Haus auf Long Island versteckte?
„Wir kommen aus Richtung neun Uhr“, verkündete Norm über das Funkgerät. Da Tom sich selbst zu Lillys Leibwächter degradiert hatte, hatte er Norm die Leitung der Operation übergeben. Momentan saß Norm zusammen mit dem Polizeichef und einem Kader seiner besten Leute in einem unauffälligen Minibus. Sie hatten überall in der Gegend winzige Kameras angebracht, die die zwölf Bildschirme in dem Bus mit Bildern speisten.
Momentan kaute Norm an einem Bohnenburrito. Seiner Meinung konnte es nicht im Entferntesten mit der echten Texmex-Küche aufnehmen. Wenn er mal begraben wurde, dann am besten in der Nähe der Stadt Corpus Christi, damit sein verwesender Körper guter Dünger für die Weizenpflanzen würde, aus denen diese knusprigen und köstlichen Tortillas gemacht wurden. Das war doch mal eine ganz neue Definition von „Du bist, was du isst“, oder?
„Okay, Mädchen und Jungs.“ Norm spülte den letzten Bissen seines Burritos mit einem großen Schluck Cola hinunter. „Es ist neun Uhr. Alle Posten melden.“
Alle Posten meldeten sich.
Und warteten.
Und warteten.
Daryl Hewes, der nicht gern untätig war, nutzte die Zeit, um seine Steuerlast auszurechnen. Im Kopf. Er lag auf dem Dach des Santa Fe Buildings, einem der ältesten Wolkenkratzer der Stadt, zusammen mit zwei der besten Polizisten Amarillos. Einer von ihnen spähte durch ein Fernglas. Der andere blickte durch das Zielfernrohr seines Gewehrs.
Daryl Hewes war nicht gern untätig, aber es gab noch einen anderen Grund für die mentale Rechenarbeit: Er wollte sich ablenken. Er hatte Miss Darcy Parr aus der Ferne verehrt. Allein der Anblick ihrer blonden Locken hatte ihn immer in Schwärmerei versetzt, genauso wie der Klang ihres bodenständigen Virginia-Akzents. Und jetzt
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