Herr, erbarme dich! - Corin, J: Herr, erbarme dich!
ihren rissigen Lippen aus.
Tom setzte sich.
„Es geht um die Wahl“, erklärte sie. „Es gib eine Organisation, die sich ‚Unity for a Better Tomorrow‘ nennt. Eine christliche Organisation. Sie sponsern Auftritte von Kellerman. Der erste war in Atlanta im vergangenen November. Und rate mal, wo der zweite war?“
„Amarillo.“ Tom dachte einen Moment nach. „Das Mencken-Zitat auf dem Video. Galileo ist ein Fanatiker.“
„Wie die meisten Psychopathen.“ Sie trank noch einen Schluck Wasser. „Die nächste Veranstaltung hat in Santa Fe stattgefunden, kurz nach Weihnachten. Dahin wird er als Nächstes gehen.“
„Was für ein Zufall“, entgegnete Tom. „Weil wir da als Nächstes auch hingehen.“
Esme nickte.
Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Schweigen und Erinnerungen.
Dann: „Er hätte mich umbringen können, Tom.“
„Ich weiß. Du hattest großes Glück.“
„Nein.“ Sie holte Luft. „Er hatte mir das Gewehr schon an den Kopf gehalten. Er hätte mich töten können, er hätte nur abzudrücken brauchen. Aber das hat er nicht. Wieso nicht?“
„Ich weiß es nicht. Aber bald werde ich ihn treffen. Und dann werde ich ihn fragen, okay?“
Sie nickte schwach. Die letzten paar Minuten hatten sie sehr erschöpft, sämtliche Kraft schien sie verlassen zu haben.
Tom wusste, dass es nun an der Zeit war, zu gehen. Er küsste sie auf die Stirn.
„Es tut mir leid“, flüsterte er.
Esme murmelte etwas.
„Wie bitte?“ Er beugte sich vor. „Ich hab dich nicht verstanden.“
Doch da war sie schon eingeschlafen.
13. KAPITEL
In San Francisco das Wetter richtig vorherzusagen war unmöglich. Keine noch so ausgefeilte Technologie oder Wissenschaft konnte im Voraus erkennen, wie warm, kalt, trocken, feucht, windig, windstill das Wetter selbst im nächsten Moment sein würde. Jahreszeiten konnte man vergessen. Denn in der Stadt war es oft genug warm, kalt, trocken, feucht, windig und windstill zur selben Zeit.
Am ersten März brauten die Wettergötter eine heftige Mischung zusammen. Es begann mit Nebel, wie fast immer. Die Einwohner wachten in einer weißen Suppe auf und machten sich mit Taschenlampen bewaffnet auf die Suche nach der Morgenzeitung. Lilly Toro benutzte ihr Bic-Feuerzeug, um den „San Francisco Chronicle“ zu holen und auf den Küchentisch ihrer Exfreundin Penny zu legen. Penny war bereits weg. Sie arbeitete in der Frühschicht bei einem 24-Stunden-Sexshop drüben in Chinatown. Normalerweise wäre Lilly auch längst unterwegs, entweder auf einem Termin oder auf dem Weg in die Mission Street, doch seit zwei Tagen war sie freigestellt.
„Das Problem“, hatte ihr Redakteur erklärt, „ist, dass dein Ehrgeiz größer war als dein gesunder Menschenverstand. Du bist sehr talentiert, Lilly, aber außerordentlich unreif. Tatsache ist, dass du die Sicherheit von Polizisten aufs Spiel gesetzt hast.“
Wenn ihr Informant ein echter Informant gewesen wäre, wäre nichts davon geschehen. Sie hätte eine fantastische Story geschrieben und eine Gehaltserhöhung anstelle einer Abmahnung bekommen. Sie hätte sich vor Angeboten nicht retten können und müsste nicht länger bei ihrer Exfreundin wohnen. Und es wäre überhaupt nicht schlimm gewesen, mit einem echten Informanten zu sprechen. Im Gegenteil: Die Zusammenarbeit zwischen dem FBI und der örtlichen Polizei hätte sich auf diese Weise sogar verbessert.
Und was den Ehrgeiz betraf – das war schließlich Amerika. Seit wann war es in Amerika ein Verbrechen, ehrgeizig zu sein? War sie unreif, naiv? Lilly setzte sich an den Küchentisch, zündete sich eine Marlboro an und stieß den Rauch aus. Wer benahm sich heutzutage denn nicht idiotisch?
Immerhin las sie Zeitung.
Als sie zum Wirtschaftsteil kam, war der Himmel draußen schwarz geworden wie getrocknetes Blut, und die ersten Donnerschläge rollten durch die Stadt. Lilly musste das Küchenlicht anknipsen, um weiterlesen zu können. Sie rauchte inzwischen ihre dritte Zigarette. Der Becher, den sie als Ascher benutzte, war schon hübsch voll.
Sie hätte die Zeitung auf ihrem Hello-Kitty-Laptop lesen können. SFGate.com war eine der ältesten und beliebtesten Websites im Land. Ganz am Anfang hatte ihr erster Job darin bestanden, sich um den Inhalt der Seite zu kümmern. Das führte zu einem eigenen Blog, der wiederum führte zu kleinen Artikeln, und das führte dahin und das Nächste dorthin und so weiter.
Jetzt regnete es in Strömen.
Lilly blätterte zum Sportteil. Die
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