Herr, erbarme dich! - Corin, J: Herr, erbarme dich!
nun, wie ein braves Kätzchen.
Die Fahrt nach Berkeley dauerte drei Zigaretten. Als sie sich dem Campus näherte, wurde der Verkehr wie immer dicht. Zum Glück konnte sie mit ihrem VW locker auf dem engen Seitenstreifen fahren, und so zog sie an den hupenden Autos vorbei bis zum südlichen Tor. Dort schnappte sie sich ihren Presseausweis aus dem Handschuhfach und winkte damit den Sicherheitsleuten zu. Sie wurde in einen Parkplatz eingewiesen.
Mitten auf Berkeleys riesigem Campus befand sich der Sather Tower, ein einundsechzig Meter hoher Glockenturm, auch „The Campanile“ genannt. Als sie das Auto abschloss, konnte sie nicht anders, als den mächtigen Steinfinger anzustarren. Sofort dachte sie an Charles Whitman, den Jungen, der 1966 mit einem Gewehr bewaffnet auf ein Gebäude der Universität von Texas geklettert war, siebzehn Menschen erschoss und sechsundsechzig weitere verletzte.
The Campanile wäre das perfekte Versteck für ihren Sniper.
Sie griff in die Tasche nach einer weiteren Zigarette. Ihre winzigen Hände zitterten jetzt. Reiß dich zusammen!, schimpfte sie mit sich. Amarillo ist Vergangenheit. Heute geht es um deine Zukunft! Doch inzwischen kribbelten ihre Hände und Füße, ihr Herz raste.
Sie erlebte gerade eine Panikattacke, ihre vierzehnte, seit sie nach San Francisco zurückgekehrt war. Ihr Arzt hatte ihr Xanax, einen Tranquilizer, verschrieben, doch die Pillen hatte sie für ein bisschen schnelles Geld an einen Kumpel verkauft. Jetzt, als ihre Lungen sich zusammenballten wie Fäuste, als ihr schwindlig wurde und schlecht, wäre sie am liebsten wieder in ihren VW gestiegen, um zu ihrem Kumpel zu fahren und sämtliche Pillen aus der Packung auf einmal zu schlucken. Bei der ersten Panikattacke hatte sie geglaubt, zu sterben. Denn so hatte es sich angefühlt. Und obwohl sie wusste, dass sie nicht starb, dass ihre Symptome rein psychosomatisch waren, dass es ihr in Wahrheit gut ging, obwohl sie das alles wusste, machte das überhaupt keinen Unterschied. Lilly schloss die Augen und konzentrierte sich auf ihre Organe, auf ein Organ nach dem anderen. Entspann dich, sagte sie sich. Und dann richtete sie ihre Gedanken auf eine angenehme Erinnerung: ihr erster richtiger Kuss hinter einer Kirche auf dem Martin Boulevard. Die Empfindungen, die dieser Kuss in ihr geweckt hatte, waren ironischerweise ähnlich wie jetzt – Herzrasen, Kribbeln in den Gliedern –, aber durchdrungen von Wärme und einem Gefühl von Sicherheit. Lilly gelang es, ihre Panik zu überwinden. Das Gute besiegt immer das Böse, da war sie sicher. Ihre Symptome begannen nachzulassen. Gut. Sehr gut.
Sie öffnete die Augen und warf einen prüfenden Blick in den Seitenspiegel ihres Käfers. Ein paar schwarze Strähnen klebten an ihrer schweißnassen Stirn. Sie kümmerte sich darum, holte ein letztes Mal tief Luft und marschierte zur Sproul Plaza, sorgfältig darauf bedacht, den Glockenturm keines Blickes mehr zu würdigen.
Schön. Nun zurück zu den wichtigen Dingen. Was sollte sie Bob Kellerman fragen? Während sie sich der Menschenmenge näherte, dachte sie über ihre Möglichkeiten nach. Sie konnte mit etwas völlig Abgedrehtem anfangen („Stimmt es, dass Sie auf SM stehen?“) oder etwas Unangenehmem („Stimmt es, dass Sie das Glücksspiel mögen?“). Beide Fragen waren sensationsheischend. Beide würden verneint werden, doch dann hätte sie schon einen Fuß in der Tür.
Bob Kellerman wehrt sich gegen den Vorwurf, spielsüchtig zu sein.
Das war natürlich Boulevardjournalismus. Doch die Grenze zwischen Seriosität und Unterhaltung war schon vor so langer Zeit verwischt worden, dass es immer besser war, nach Letzterem zu streben. Deswegen war ihre Geschichte über die FBI Task Force ja auch so interessant gewesen. Sie bahnte sich einen Weg durch die Studentenmenge. Die Regenwolken hatten sich verzogen, Sonnenstrahlen ergossen sich auf die leuchtenden Felder. Und vorne an der Treppe stand Deedee. Der Kandidat und seine Leute waren wahrscheinlich noch drinnen, um die Rede noch einmal durchzugehen. Lilly spazierte auf ihre alte Freundin zu.
„Hey, D., wie wär’s mit einem Kuss?“ Lillys gespielte Lässigkeit war genau das – gespielt. Kein Mensch erholte sich von einer Panikattacke innerhalb von zwanzig Minuten. Aber Lässigkeit wurde von ihr erwartet, also bitte schön.
„Was hast du diesmal zu bieten, L.? Einunddreißig Piercings?“
„Einen für jeden Geschmack, Babe.“
„Du kannst nicht hinter die Bühne“,
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