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Herr, erbarme dich! - Corin, J: Herr, erbarme dich!

Herr, erbarme dich! - Corin, J: Herr, erbarme dich!

Titel: Herr, erbarme dich! - Corin, J: Herr, erbarme dich! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joshua Corin
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sagte Deedee. „ Nach der Rede erst. Und dann hast du vielleicht dreißig Sekunden.“
    „Mehr brauche ich nicht.“
    „Ich weiß. Hab schon davon gehört.“
    Lilly verdrehte die Augen, dann sah sie sich in der Menschenmenge nach einem guten Platz um. Das Publikum war sehr gemischt, aber nichts anderes hatte sie in Berkeley erwartet. Irgendwo mussten auch ihre Gothic-Freunde sein, wie meistens wohl im Schatten … und tatsächlich, da waren sie, unter einer Pappel. Lilly gesellte sich zu ihnen.
    Nancy Holland, die Präsidentin der Universität, kam aufs Podium. Wurde auch Zeit.
    „Ladies und Gentlemen“, begann sie, und Lilly schaltete ab. Sie war nicht hier, um Nancy Holland zuzuhören. Sie war nicht einmal hier, um Bob Kellerman zuzuhören. Sie war hier, um ihm einen Kommentar abzuringen.
    Ein Teenager mit teigigem Gesicht rechts neben ihr bot ihr eine Zigarette an. Sie nahm dankbar an. Sie fühlte sich wieder jung.
    Schließlich betrat Bob Kellerman die Bühne. Das Publikum applaudierte frenetisch. Lilly konnte nicht umhin, sich von der Begeisterungswelle mitreißen zu lassen. Zwar wusste sie nicht, was so besonders an dem Mann sein sollte, aber die Leute waren vollkommen hingerissen.
    Er war ein gut aussehender Mann, nicht gut aussehend wie ein Filmstar, sondern eher wie auf einem Norman-Rockwell-Gemälde. Er wirkte wie jemand, der begeistert zusah, wenn sein erstgeborener Sohn in der Schule einen Home Run schlug. Auch er war durch und durch Amerikaner. Sein Haar und seine Augen waren haselnussbraun, die Krawatte bernsteinfarben. Er hatte eine interessante Narbe in der Mitte der linken Augenbraue, beinahe unsichtbar und zugleich unmöglich zu übersehen. Rührte sie von einem Unfall in der Kindheit her? Das wenige, das Lilly über diesen Mann wusste, war, dass er der freiwilligen Feuerwehr angehörte. Vielleicht hatte er daher die Narbe. Vielleicht handelte es sich aber auch um gar keine echte Narbe, sondern um den Schminktrick eines genialen Maskenbildners, um Kellerman noch kerniger aussehen zu lassen.
    Er sprach eine Dreiviertelstunde lang. Das meiste schien er aus dem Stegreif zu sagen, doch Lilly war sicher, dass es sich nur um einen rhetorischen Trick handelte. Hauptsächlich ging es um Naturschutz, immer ein sicheres Thema im umweltbewussten Nordkalifornien. Er bezog sich auf die aktivistische Vergangenheit Berkeleys und ermutigte jeden Einzelnen, für eine Veränderung zu stimmen, und … Lilly blendete ihn aus. Politik war nicht ihr Ding. Lieber nutzte sie die Zeit, um sich ihre hanebüchene Frage zu überlegen. Als er schließlich fertig war, hatte sie sich für eine entschieden.
    Laut Deedee würde sich der Kandidat nach der Rede in die Sproul Hall zurückziehen, wo er sich kurz mit seinem Gefolge besprechen und dann durch die Tür zur Telegraph Avenue zum Wagen gehen würde. Der beste Moment für ihre dreißig Sekunden wäre in der Sproul Hall, wobei sie sich dann zwischen Studenten durchdrücken müsste, um zu ihm zu gelangen. Zum Glück machten es Lilly ihre geringe Körpergröße und ihr großes Auftreten relativ leicht, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen. Am Kopf der Treppe traf sie auf Deedee.
    „Dreißig Sekunden“, erinnerte Deedee sie.
    Lilly nickte. Sie betrat das Gebäude, und da war er, der Mann der Stunde, umgeben von einer Traube wichtiger Leute, die Lilly weder kannte noch kennenlernen wollte.
    „Gouverneur Kellerman“, rief sie, mit noch tieferer Stimme als sonst, um schneller seine Aufmerksamkeit zu erregen. Und es funktionierte. Er sah mit neugierigem Blick zu ihr herüber, doch dann stellte sich sein pitbullartiger Bodyguard zwischen sie.
    „Keine Presse“, brummte der Bodyguard.
    „Nur eine einzige Frage?“ Sie legte ihren kleinen Kopf zur Seite und erhaschte noch einmal Kellermans Blick, woraufhin sie ihm ein unschuldiges Grinsen zuwarf. „Bitte?“
    „Sicher“, antwortete der Gouverneur. Wahrscheinlich dachte er, sie wäre eine Studentin. Sie drückte sich an dem Bodyguard vorbei auf Kellerman zu. Er war größer, als sie erwartet hatte, und die freundliche, väterliche Ausstrahlung, die er schon auf der Bühne gehabt hatte, intensivierte sich noch. Das war ein Mann, den man nach einem langen Arbeitstag in den Arm nehmen wollte.
    „Wie lautet Ihre Frage?“
    Doch Lilly wusste nichts zu sagen. Mit einem Mal wollte sie diesem offensichtlich netten Mann keine hinterhältige Falle mehr stellen. Mit einem Mal wollte sie nicht einmal hier sein.
    „Ich

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