Herr, erbarme dich! - Corin, J: Herr, erbarme dich!
wenigstens versuchte, oder?
„Also, hast du schlimme Schmerzen?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Das ist gut. Der Doktor denkt, dass du innerhalb kürzester Zeit wieder joggen kannst. Ich wollte ihn auf einen Termin festnageln, aber er hat sich geweigert, einen genauen Zeitpunkt zu nennen. Ist ja auch nicht weiter wichtig. Wenn er sechs Wochen sagen würde, wärst du in vier fit. So bist du eben.“
Esme antwortete mit einem Schulterzucken.
„Im Holiday Inn gibt es ein Restaurant, und ich habe mir mal die Speisekarte angesehen, bevor ich hierherkam. Deren Spezialität ist ein Zweikilosteak. Wer das schafft, ohne dabei an einem Herzinfarkt zu sterben, darf seinen Namen an die Tafel schreiben. Ein Zweikilosteak! Kannst du dir das vorstellen? Wo wir gerade von Steak sprechen, du hast doch bestimmt Hunger. Soll ich die Krankenschwester bitten, dir was zu essen zu bringen?“
Esme antwortete, doch ihre Stimme war zu schwach und ihre Aussprache zu undeutlich von den Schmerzmitteln. Rafe erhob sich von seinem Stuhl und beugte sich vor, bis er fast die Lippen seiner Frau berührte.
„Was hast du gesagt?“, fragte er. „Was möchtest du?“
„Tom“, flüsterte sie. „Ich muss mit Tom sprechen.“
Während Tom sich mit der Bürgermeisterin unterhielt, kackte ein Vogel auf seine Harley. Als er aus dem Rathaus trat, entdeckte er die weiße Schmiere auf seinem Ledersitz, trottete zurück ins Rathaus, um Seife und Papiertücher zu besorgen, und deshalb erreichte ihn der Anruf auf der Männertoilette im ersten Stock. Esme war aufgewacht.
Doch zuerst musste er noch beim Polizeirevier vorbeischauen.
Neben den vielen, vielen beunruhigenden Fragen, die dieser Fall aufwarf, stellte sich nun folgende: Warum war der Mörder ins Rathaus gegangen? Er hatte nicht wissen können, dass noch jemand dort war. Eigentlich hätte er annehmen müssen, dass die komplette Task Force die Parkgarage bewachte. Und wenn er nicht ins Rathaus gegangen war, um einen FBI-Agenten zu töten, was war dann sein Ziel gewesen?
Tom fuhr zum Polizeirevier. Trübe Wolken wälzten sich über den Himmel. Bald würde es regnen. Der Motor vibrierte an seinen Motorradhosen. Manche Kollegen fanden es unseriös, dass er immer mit dem Motorrad unterwegs war. Die taten Tom leid, denn sie hatten offenbar keine Ahnung von der wahren Liebe.
Er parkte vor dem Polizeirevier, befestigte seine Ausrüstung, nahm den Hintereingang und ging zwei Stockwerke hinunter ins Kellergeschoss, wo sich das Kriminallabor befand. Fast sämtliche Geräte aus dem Großraumbüro im Rathaus waren für die forensische Analyse über Nacht hierher geschafft worden. Daryl, Latexhandschuhe an den Händen, arbeitete gerade an einem der Laptops.
„Sprich mit mir“, forderte Tom ihn auf.
„Das ist Esmes Laptop, den sie im Konferenzraum benutzt hat.“ Daryl sah ihn an. „Nur dass sie nicht die Letzte war, die ihn benutzt hat.“
Toms Herz machte einen Sprung. Er setzte sich. „Erklär mir das.“
„Jeder andere Computer im Büro wurde gegen 20 Uhr abgeschaltet. Ich habe die BIOS überprüft, um sicher zu sein. Esmes allerdings wurde gar nicht abgeschaltet.“
„Sie saß noch dran, als wir gegangen sind.“
„Ja. Und ich habe den gesamten Verlauf ihrer Suchanfragen und der besuchten Websites. Nun, überraschend ist, was um 21.58 Uhr geschehen ist.“
„Und was?“
Daryl öffnete ein Fenster auf dem Laptop und deutete auf eine Serie von Algorithmen. „Siehst du?“
„Ja. Und was sehe ich da?“
„Um 21.58 Uhr hat jemand ein unbekanntes externes Gerät in den USB-Anschluss gesteckt. Ich denke, es war tragbare Hardware.“
„Daryl, wonach hat er gesucht? Was wollte Galileo sich im Rathaus holen?“
„Das ist es ja. Ich weiß es nicht.“
„Aber …“
Er öffnete ein weiteres Fenster, eines, das Tom kannte. Die Fehleranzeige von Windows. „Er hat das Betriebssystem zerstört“, erläuterte Daryl. „Aber der Virus ist nicht besonders kompliziert, das bekommen wir leicht wieder hin.“
„Indem Windows neu installiert wird.“
„Und wir die Festplatte neu formatieren.“
Tom rieb sich die Schläfen. „Hast du irgendwelche Fingerabdrücke gefunden oder sonstige Spuren?“
„Wir haben ein paar Haare. Die passen zu der Beschreibung, die Lilly uns gegeben hat. Kurz. Blond.“
„Das ist ja großartig!“, fluchte er. „Jetzt können wir …“
„Sie stammen von einer Perücke, Tom.“
Tom seufzte. Natürlich. Zurück auf Anfang. Nein, das stimmte nicht
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