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Herr, erbarme dich! - Corin, J: Herr, erbarme dich!

Herr, erbarme dich! - Corin, J: Herr, erbarme dich!

Titel: Herr, erbarme dich! - Corin, J: Herr, erbarme dich! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joshua Corin
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Gebäuden wurden Pagoden, und die Schilder – sonst wie üblich waagrecht – hingen nun senkrecht, was sich für die alten Schriftzeichen auch viel besser eignete.
    Die Hauptdurchgangsstraße in Chinatown war die Grant Avenue, deswegen nahm Lilly stattdessen eine der schmalen Seitenstraßen. Galileo war noch immer hinter ihr, doch sie sah, dass sein bulliger blauer Ford kaum zwischen den Backsteingebäuden der engen Ross Alley durchpasste.
    Was sagst du nun, Arschloch?
    Lilly spürte, wie sich ihr Griff ums Lenkrad lockerte. Sie würde ihn tatsächlich abhängen. Sie, Lilly Toro, würde gegen den großen bösen Wolf gewinnen. Merkwürdig, dass sie in diesem Moment an ihre Eltern denken musste, und zwar ohne Abneigung. Sie wären stolz auf sie. Sie, die ihren Lebensstil verabscheuten, die sie mit fünfzehn auf die Straße geworfen hatten, würden vor den Nachbarn mit ihr angeben.
    Als rechts das Polizeirevier auftauchte, fühlte sie unbändiges Glück in sich aufsteigen. Sie war frei. Sie hatte es geschafft. Sie drückte auf die Hupe, um die Aufmerksamkeit von den vier Polizisten vor der Tür auf sich zu ziehen, und hielt neben ihnen an.
    „Können wir Ihnen helfen?“, erkundigte sich einer von ihnen.
    „Ja, ich …“ Lilly blickte zurück, um auf den Ford zu zeigen, doch der war verschwunden.
    „Ma’am?“
    „Ich wurde verfolgt“, erklärte sie grinsend. „Aber ich schätze, ich habe ihn abgehängt.“
    Als die Polizisten zur Straße blickten, ohne irgendetwas Bedrohliches zu entdecken, stieg Lilly aus ihrem Wagen. Ihre Beine zitterten vor Anstrengung, doch sie lebte. Sie lebte! Ihr Handy klingelte. Wahrscheinlich Tom Piper, der sie endlich zurückrief. Wieder mal zu spät. Sie drückte das Telefon ans Ohr.
    „Yo“, rief sie fröhlich.
    „Danke, dass Sie still stehen“, sagte Galileo, und aus sechshundert Meter Entfernung drückte er den Abzug seines Gewehrs und setzte Lillys Leben ein Ende.

16. KAPITEL
    „Angst“, sagte Rafe, „und Verlangen.“
    Er schrieb die Worte mit schwarzer Tinte auf die weiße Tafel, und einige pflichtbewusste Studienanfänger in dem Hörsaal schrieben sie ab. Rafe hielt einen Moment inne, um darüber zu schmunzeln – würden sie diese zwei Worte sonst vergessen? Andererseits waren sie zum ersten Mal von zu Hause weg, tranken Alkohol, nahmen Drogen und bekamen zu wenig Schlaf, man konnte also nicht wissen, in welchen Zustand sich ihre gerade herangereiften Gehirne befanden.
    Er fuhr fort: „Das ist die Dialektik der menschlichen Psychologie. Wenn wir sagen, dass Leute bei uns einen bestimmten Knopf drücken, dann handelt es sich genau um diese beiden Empfindungen: Angst oder Verlangen. Wir können davon ausgehen, dass Gesellschaften ein kollektives Bewusstsein haben. Das heißt, die alten Römer hatten vor allem Angst. Ihre Fremdenfeindlichkeit führte dazu, dass sie vor Hannibals Elefanten Angst hatten. Sie führte aber auch dazu, die kulturelle Memetik der Nachbarn aufzunehmen und ohne Ausnahme römisch einzufärben. Die Psychosoziologie des Römischen Reichs ist eine ganz besondere Geschichte.“
    Wieder machte er eine Pause, damit die Mitschreibenden (so wenige es auch waren) nicht den Faden verloren. Rafe, der ein großer Geschichtsfan war, konnte solchen wirkungsvollen historischen Vergleichen nicht widerstehen, und vielleicht halfen sie zumindest den Klügeren in diesem Raum. Sich mit den Mittelmäßigen abzugeben war sowieso nicht sein Stil.
    Er dachte an seinen alten Vater, der sich momentan mit seinen Hanteln und Zeitschriften in ihrem Gästezimmer eingerichtet hatte, und an seine Frau, die praktisch völlig invalide auf dem Wohnzimmersofa hauste. Ähnlich wie die alten Römer hatte sich sein Leben in letzter Zeit sehr dramatisch in Richtung Angst und Verlangen verschoben.
    Ein Student hob die Hand.
    „Ja?“
    „Wie schreibt man ‚Hannibal‘“?
    Wenn Amy Lieb lachte, was sie übermäßig oft tat, klang sie mehr oder weniger wie ein hechelnder Hund. Schon oft hatte Esme, wenn Amy einen ihrer Lachanfälle bekam, das dringende Bedürfnis verspürt, einen Schritt zurückzutreten, um nicht mit Bazillen und heißer Luft besprüht zu werden. Obwohl sie mit ihr telefonierte, obwohl sie bei sich zu Hause und Amy Meilen entfernt bei sich zu Hause war, bewegte Esme sich instinktiv vom Telefonhörer weg, als das hündische Gelächter begann.
    „Entschuldigen Sie“, sagte Amy schließlich, nachdem sich ihre Atmung wieder normalisiert hatte, „es ist nur so … Nun,

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