Herr, erbarme dich! - Corin, J: Herr, erbarme dich!
SWAT-Team stellte die Helmlampen an. Zwölf hellblaue Lichtstrahlen tasteten über den Ford wie ein Kaleidoskop aus langen Fingern.
Seine Besitzerin, eine Mrs Harriet Rehoboth aus Oakland, hatte den Wagen am Tag zuvor als gestohlen gemeldet. Sie war zu ihrem nächstgelegenen Safeway gefahren, um mit dem Sozialhilfe-Scheck ein paar Einkäufe zu tätigen. Als sie zum Parkplatz zurückkam, den Einkaufswagen vollgestopft mit Orangen und Lammkoteletts und mehreren Flaschen Pert-Shampoo, war ihr Ford verschwunden. Mrs Rehoboth war erschrocken, doch sie war auch verwirrt. Auf dem Parkplatz wimmelte es nur so von Saabs und Jaguars und Mercedes. Warum sollte jemand ausgerechnet ihren klapprigen, achtzehn Jahre alten blauen Ford klauen? Wer würde so etwas tun?
Die Polizei kannte nun die Antwort. Das SWAT-Team kam dem Wagen noch näher, jeder einzelne Schritt genau bemessen, jeder Atemzug reguliert. Sie hatten Beobachtungsposten aufgestellt, doch Galileo war ein ausgekochter Scheißkerl und konnte überall sein. Wie Mary Chu rechneten die meisten Polizisten mit dem Schlimmsten – dass es sich hier um eine weitere Falle von Galileo handelte. Doch was für eine Alternative hatten sie? Das Auto einfach stehen lassen? Sie hatten hier ihre Arbeit zu erledigen, und keiner von ihnen hatte sich wegen der schicken Uniformen für den Job entschieden.
Sie näherten sich in geschlossener Reihe, das war die sicherste Formation, die sie einnehmen konnten. Und aus diesem Grund war es Sergeant Tyler Murphy an der Spitze, der die Schuhschachtel auf dem Beifahrersitz als Erster sah. Das Fenster war bereits heruntergekurbelt. Galileo wollte, dass die Schachtel gesehen wurde. Murphy meldete seine Entdeckung Captain Rodriguez. Rodriguez befahl dem SWAT-Team, sich zurückzuziehen, und schickte die Sprengstoffhunde vor.
Mary Chu nagte an der Unterlippe.
Drei deutsche Schäferhunde wurden in die Gasse geführt und schnüffelten einige Minuten lang den Wagen ab. Die Hundestaffel (auch K9 genannt) war darauf trainiert, Sprengstoff aufzuspüren. Es brauchte nur ein einziges Bellen, und ein Bombenspezialist würde vortreten. Doch die Hunde bellten nicht. Sie knurrten nicht einmal. Der Wagen war sicher.
Rodriguez höchstpersönlich nahm den Schuhkarton vom Sitz und sah hinein. „Was zum Henker …?“
Jemand musste Anspruch auf die Leiche erheben. Sie würde zwar erst nach Beendigung der Autopsie freigegeben werden – was das übliche Verfahren bei Mordopfern war. Doch erst wenn jemand die Leiche anforderte, wurde alles Weitere eingeleitet – ein Bestattungsunternehmen konnte beauftragt werden und so weiter. Während die Polizei damit beschäftigt war, Galileo hinterherzujagen, übernahm es der rechtsmedizinische Assistent, ein zappeliger Mann namens Chiles, die nächsten Angehörigen von Lilly Toro ausfindig zu machen. Er nahm das Handy der Verstorbenen heraus, suchte nach der Telefonnummer der Eltern, fand auf diese Weise die Adresse heraus und sprang in seinen Geländewagen. Wegen der Großfahndung waren viele Straßen gesperrt, was zu jeder Menge Staus führte, doch Chiles erreichte sein Ziel um 19 Uhr. Sein Magen knurrte, er hatte Lust auf Sushi. Doch zuerst musste irgendjemand die Freigabe der Leiche fordern.
Die Eltern der Verstorbenen wohnten im sechsten Stock eines Wohnhauses ohne Aufzug in Oakland. Chiles, ungeduldig wie immer, nahm zwei Stufen auf einmal. Als er die Wohnungstür 6 F erreichte, schmerzten seine Knie. Er drückte auf die Klingel.
Eine asiatische Frau mittleren Alters öffnete. Sie trug ein blumenbedrucktes Kleid. In der Wohnung roch es nach gekochtem Kohl. Chiles Magen knurrte schon wieder. Jemand musste endlich die Freigabe dieser Leiche fordern!
Er zog eine Fotografie aus der Tasche seiner Windjacke. Die Frau sah sie an und nickte. Ihr Gesicht wurde feucht. Chiles erklärte ihr, dass sie mit ihm ins Leichenschauhaus kommen müsse. Wieder nickte sie, holte ihren Mantel und hinterließ ihrem Mann eine Notiz. Er arbeitete bis spätabends.
Auf dem Weg nach unten nahmen sie eine Stufe nach der anderen.
Da Rückfahrten immer schneller waren als Hinfahrten, erreichten sie die Leichenhalle kurz vor 19:30 Uhr. Die Regenwolken vom Morgen waren wieder da, ein stetiger Nieselregen begleitete sie vom Parkplatz bis zu dem bewusst unauffällig gehaltenen Gebäude, in dem sich das Leichenschauhaus befand. Wie seine Chefin selbst immer sagte, brauchte der Tod keine Werbung.
Neben dem Kühlraum befand sich ein kleines ruhiges
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