Herr, erbarme dich! - Corin, J: Herr, erbarme dich!
angekommen sind.“
Tom schlief nicht und Norm diesmal auch nicht.
Die Bar schloss um zwei Uhr morgens. Rafe schüttete sein letztes Glas Scotch hinunter, bezahlte die Rechnung und ging zu seinem Wagen. Seine Freunde – überwiegend Professorenkollegen – waren schon längst bei ihren Ehepartnern und in ihren Betten. Was für ein Glück für sie.
Der Barkeeper hatte ihn gefragt, ob er noch fahren könne.
„Ich bin nicht betrunken“, hatte Rafe geantwortet.
Er war nicht betrunken, nur etwas angeheitert. Der Motor sprang ohne Probleme an, und Rafe fuhr sehr langsam los.
Nicht dass er es hinauszögern wollte, nach Hause zu kommen. Es war nur …
Er stellte das Radio an und suchte nach WCBS-AM, um sich abzulenken. Der Reporter berichtete über die jüngsten Highlights des March Madness, dem Turnier der College-Basketballteams. Rafe hatte die letzten Minuten des Syracuse-Spiels in der Bar gesehen.
Er drehte das Radio ab. Wie jeder andere in Amerika hatte er die Berichte aus San Francisco im Fernsehen gesehen. Galileo hatte wieder zugeschlagen. Nun hatte er fast dreißig Tote auf dem Gewissen. Um elf Uhr am nächsten Morgen wollte das FBI eine Pressekonferenz geben. Rafe hoffte, dass sie Tom Piper zur Rechenschaft ziehen würden. Dieser unverantwortliche Dreckskerl hatte beinahe das Leben seiner Frau auf dem Gewissen, und wozu? Sie waren in den Ermittlungen keinen Millimeter vorangekommen. Wenn Tom Piper dafür bluten musste, nun, dann würde Rafe sich wenigstens ein bisschen besser fühlen.
Rafe hatte Freud in seinem Vortrag über Angst und Verlangen zitiert. Und was ihn selbst betraf, wusste er ganz genau, wozu er momentan tendierte. Sein Leben war überschwemmt von Verlangen, dem Verlangen nach einer Veränderung, dem Verlangen, die Uhr zurückzudrehen und zu seinem Leben vor dem 14. Februar zurückzukehren. Doch das Einzige, was er tun konnte, war abends lange wegzubleiben und Bier und Scotch zu trinken.
Er fuhr in seine Auffahrt. Die Garagentür schien immer viel mehr Lärm zu machen, wenn alle anderen schon schliefen. Konnten Maschinen gehässig sein, oder war diese Eigenart ausschließlich Menschen vorbehalten? Leise stieg er aus dem Auto und ging ins Haus.
Im Wohnzimmer lief der Fernseher. Esme war davor eingeschlafen. Wieder mal. Rafe nahm die Fernbedienung vom Couchtisch und schaltete ihn aus. Seine Frau lag unter einer farbenfrohen Wolldecke auf dem Sofa. Sie behauptete, dass sie nicht im Bett schlafen könne. Ihre rechte Seite war noch immer bandagiert, vom unteren Rücken bis zum Bauchnabel, und sie sagte, die Matratze würde ihre Schmerzen verschlimmern.
Selbst im Schlaf war ihr Gesicht schmerzverzerrt.
Rafe war schon fast in der Mitte der Treppe, als sie seinen Namen rief.
„Hi“, sagte er. „Ich dachte, du schläfst.“
„Wie spät ist es?“ Sie gähnte.
„Spät. Schlaf weiter.“
Sie starrten einander im Dunkeln an, die Gesichter im Schatten.
„Lilly Toro ist tot.“
„Hab ich gesehen. Hast du sie gekannt?“
„Kellerman kommt nach Oyster Bay.“
„Ja, das sorgt für große Aufregung am College“, entgegnete Rafe. „Es ist schön zu sehen, dass einige Studenten sich zur Abwechslung mal wieder für was begeistern.“
Mit den herabhängenden Augenlidern war er selbst nicht gerade ein leuchtendes Beispiel für Begeisterungsfähigkeit, aber zum Glück verbarg die Dunkelheit seine Erschöpfung.
„Nein, du verstehst nicht!“ Sie versuchte sich aufzusetzen, obwohl das heftige Schmerzen nach sich zog. „Kellerman ist mit Galileo verbunden. Wir laden praktisch einen Serienmörder in unser Heim ein. Um Himmels willen, er war Hausmeister in der Grundschule in Atlanta! Sophie … mein Gott …“
Er trat einen Schritt vor, aus dem sicheren Schatten heraus und auf die Frau auf der Couch zu. Sie brauchte Trost. Er griff nach ihren Händen. „Esme, unsere Tochter ist nicht in Gefahr! Wir sind nicht in Gefahr! Vielleicht solltest du mit deinem Therapeuten darüber sprechen. Ich bin sicher …“
„Wie kannst du so ein Risiko eingehen?“ Esme schlug seine Hände weg. „Ist dir das völlig egal?“
„Du fragst mich, ob es mir egal ist? Schätzchen, ich bin es nicht, der seine Familie im Stich gelassen hat, um nach Texas zu verschwinden. Das Letzte, was du mir im Moment vorwerfen kannst, ist wohl, dass ich die falschen Prioritäten setze.“
„Weshalb du auch den Abend lieber in einer Bar verbringst als zu Hause mit deiner …“
Rafe hob die Hände und ging aus dem
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