Herr, erbarme dich! - Corin, J: Herr, erbarme dich!
Daddy hielt einfach mal wieder eine Rede.
„Ich bin heute Abend hier als ein …“
Kathryn Hightower stand zu seiner Linken, aus den Augenwinkeln konnte er sie sehen. Sie arbeitete seit einer gefühlten Ewigkeit für ihn, seit seinem ersten Wahlkampf um das Amt des Bürgermeisters.
„Ich bin heute Abend hier als ein …“
Das war der Absatz, der zu seinen Aussagen über Partnerschaftlichkeit überleiten sollte, dem eigentlichen Thema seiner Rede. Die Einleitung der Nominierung von General Archie Phillips als Vizepräsident. General Phillips wartete im Haus hinter geschlossenen Vorhängen. In voller Uniform. Er war ein guter Mann, der während des Vorwahlkampfs auf freundliche und kluge Art und Weise debattiert hatte. Doch das Volk wollte keinen klugen Mann. Es wollte einen einfachen Mann. Es wollte Bob.
Jemanden, mit dem sie sonntags in die Kirche gehen konnten.
„Ich …“
Er spürte den Seitenblick von Kathryn. Die loyale, hart arbeitende Kathryn. Er wollte ihr am liebsten einen Kuss auf die Stirn drücken und sich entschuldigen, aber das musste noch warten. Irgendwo in diesem Land, in seinem Land, beging ein Mann seinetwegen die schrecklichsten Verbrechen. Das musste aufhören.
„Vor zweihundert Jahren kandidierte Thomas Jefferson als Präsident, und er hatte viele Gegner. Da sie ihn nicht wegen seiner Politik angreifen konnten und er großes Ansehen genoss, entschieden seine Feinde sich für eine andere Taktik.“
Die großen weißen Worte auf den Telepromptern wurden zurückgescrollt und dann wieder nach unten, als der Techniker versuchte, diesen Teil der Rede zu finden.
„Er war einer der Architekten unserer Demokratie. Er war der Mann, der die Unabhängigkeitserklärung geschrieben hat. Wie konnte man einen solchen Mann schlagen? Indem man seinen Charakter angriff. Und das taten sie. Thomas Jefferson, müssen Sie wissen, war Skeptiker. Er war Wissenschaftler, und die Wissenschaft verlangt nach Beweisen. Jefferson betrachtete das Universum und glaubte nicht, dass wir Menschen bereits alles herausgefunden hatten. Deswegen nannten sie ihn einen Atheisten. Dieses Etikett hing ihm während des ganzen Wahlkampfs an, doch als die amerikanischen Bürger schließlich den Präsidenten der Vereinigten Staaten wählten, war die überwältigende Mehrheit für Jefferson. Sie wählten einen Mann ins Amt, dessen leidenschaftlicher Wissensdurst half, unser geliebtes Land aufzubauen.“
Bob konnte jetzt durch die Scheinwerfer hindurch die Gesichter in der Menge ausmachen. Er sprach nicht mehr nach dem Skript, und seine Zuhörer wussten es. Er spürte die Anspannung in der Luft. So etwas hatten sie nicht erwartet, deswegen wussten sie nicht, wie sie reagieren sollten.
Er hatte den Stein ins Rollen gebracht.
„Man sollte denken, dass nach dieser turbulenten Wahl die Politiker ihre Lektion gelernt hätten. Ein Mann muss nicht gläubig sein, um sein Vaterland zu lieben. Patriotismus selbst ist eine Religion, oder nicht? Unser Land ist eine riesige Kathedrale, und unsere Verfassung ist unser Gesangsbuch. Unsere Zehn Gebote sind die Bill of Rights. Man sollte also denken, dass nach dieser turbulenten Wahl die Politiker ihre Lektion gelernt hätten, aber das haben sie nicht. Viele Jahrzehnte später tauchte ein anderer Mann auf, ein Mann mit grimmiger Intelligenz und grenzenlosem Mitgefühl, und da sie ihn nicht aufhalten konnten, griffen sie seine persönlichen Überzeugungen an. Wieder einmal wurde einem Mann ein Etikett verpasst. ‚Ungläubig‘. Ein besonders eifriger Schmutzfink nannte ihn sogar ‚gottlos‘. Doch wieder einmal hatten sie die Weisheit des amerikanischen Volkes unterschätzt, und im Jahr 1860 wählte es diesen gottlosen Ungläubigen in das höchste Amt des Landes. Können Sie sich vorstellen, wie unser Land heute aussehen würde, wenn diese Schmutzfinken gesiegt hätten? Können Sie sich vorstellen, wie unser Land heute aussehen würde, wenn Abraham Lincoln nicht Präsident geworden wäre?“
Die Zuhörer begannen zu murmeln. Bob war immer erstaunt, wie wenig die Leute über ihre eigene Geschichte wussten. Aber er war nicht hier, um ihnen Geschichtsunterricht zu geben. Im Gegenteil: Es ging um die Zukunft.
„Was unser Land einzigartig macht, ist die Vielfalt. Wir sind die Vereinigten Staaten von Amerika. Nicht ein Staat, sondern viele Staaten. Nicht eine Rasse, nicht eine Religion, nicht eine Lebensweise, sondern viele. Das ist unsere größte Stärke, und jeder, der versucht, diesen
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