Herr, erbarme dich! - Corin, J: Herr, erbarme dich!
nicht, ob Sie das noch können.“
Bob nickte zerstreut. Wahrscheinlich hatte er mit dieser Antwort gerechnet.
Wieder war es Rafe, der das Schweigen brach. „Wenn Sie mich fragen, Gouverneur, hat Mr Ridgely recht. Die Leute wollen, dass ihr Präsident ein gottesfürchtiger Mann ist, der regelmäßig in die Kirche geht. In unserem Land, in vielen Ländern, hat Patriotismus etwas mit Gläubigkeit zu tun. Da erzähle ich Ihnen ja nichts Neues, deswegen haben Sie dieses Geheimnis ja die ganze Zeit für sich behalten. Wenn Sie jetzt damit rausrücken, werden die Leute Sie hassen. Damit würden Sie alles wegwerfen, worauf Sie hingearbeitet haben, und ein anderer wird gewählt. Wir werden einen mittelmäßigen Präsidenten bekommen. Wollen Sie dafür verantwortlich sein?“
Die Tür zum Arbeitszimmer ging auf, und ausgerechnet Kathryn Hightower trat ein. „Gouverneur, es ist Zeit für Ihre Rede.“
Bob schwieg einen Augenblick, tief in Gedanken versunken, dann wandte er sich an Kathryn und nickte. „Danke, Kathryn. Ich komme gleich.“
Die Welt sah zu.
Siebenundvierzig Kameras waren auf die Bühne gerichtet. Siebenundvierzig Fernsehkameras und zahllose schicke Digitalkameras der Gäste. Am Ende des Abends würde diese Rede jedem Menschen auf dem Planeten, der eine Internetverbindung besaß, zugänglich sein.
Die Faszination war verständlich. Bob Kellerman war nicht nur der Kandidat seiner Partei, er war laut Umfragen auch der wahrscheinliche nächste Präsident der USA. Amerika war je nach Regierung mal mehr, mal weniger beliebt, aber immer noch das mächtigste Land der Welt. Die Aussicht, dass Kellerman Präsident wurde, setzte ein hoffnungsvolles Zeichen. Er war ein Populist, aber er polarisierte nicht. Er war liberal, natürlich, tendierte aber wie die Republikaner zu wirtschaftlicher Unabhängigkeit. Im Juni sollte er nach Israel, Pakistan, Russland und Ägypten fliegen, nach England und Frankreich, selbst in die lange vernachlässigten Länder Venezuela und Brasilien. Die Welt liebte Bob.
Aber natürlich liebte ihn nicht jeder. Als der Gouverneur unter tosendem Beifall auf die Bühne trat, dachte er an seine Feinde. Deren Einstellung kannte er gut. Recht auf Abtreibung = Recht auf Mord. Freier Markt = keine Arbeit. Er hatte gelesen, wie in Leitartikeln seine volkstümliche Art kritisiert wurde. Ihm fehlte die Erfahrung, mit den zwei Parteien in Washington umzugehen. Ihm fehlte die internationale Erfahrung, mit einem Krieg umzugehen. Deswegen war die Wahl des Vizepräsidenten so wichtig. Deswegen waren siebenundvierzig Kameras an diesem Abend auf sein Gesicht gerichtet.
Sie alle erwarteten eine Nominierung.
„Liebe Freunde“, sagte er. „Ich bin sehr froh, Sie alle heute an diesem wunderschönen Abend am Meer begrüßen zu dürfen.“
Die Rede war vorbereitet, der Text rollte in großen weißen Buchstaben auf den Telepromptern zu beiden Seiten der Menschenmenge ab. Seine Leute hatten die ganze Woche an dieser Rede gebastelt, sie wussten, wie bedeutsam sie war. Ununterbrochen hatten sie Entwürfe in sein Hotelzimmer in Anaheim gemailt, und jeden Abend hatte er seine Anmerkungen und Änderungswünsche zurückgeschrieben. Eine andere Form der Kommunikation hatte er in dieser Woche nicht zugelassen. Es hatte ein richtiger Urlaub werden sollen. Wahrscheinlich war es der letzte richtige Urlaub gewesen, den er für lange, lange Zeit haben würde.
„Wir alle stehen heute Abend kurz vor einer großen Veränderung. Wir, die amerikanischen Bürger, stehen kurz davor, unser Potenzial voll und ganz auszuschöpfen. Das können Sie in den Gesichtern der älteren Menschen sehen. Sie können es in den Gesichtern der Kinder sehen. Man sagt, Stolz sei eine Sünde, aber ich bin heute hier, um Ihnen zu sagen, dass ich stolz darauf bin, wohin unser Land sich bewegt. Ich bin stolz darauf, was wir für unsere Mitmenschen tun können. Ich bin stolz, dass zum ersten Mal in der Geschichte die Freiheit in diesem Land so umfassend und grenzenlos ist wie der Ozean gleich hier an dieser Küste.“
Es handelte sich um die nichtssagende Rhetorik, die man von den einleitenden Worten erwartete. Ohne diese Plattitüden hätten die Kritiker ihn in der Luft zerrissen. Tja, er hat Amerika nur neunundfünfzigmal erwähnt, wie es scheint, fehlt es ihm an Patriotismus … So war das nun mal.
Seine Kinder waren zu Hause in Ohio. Wahrscheinlich saßen sie gerade beim Abendessen. Vielleicht hatten sie den Fernseher an, vermutlich aber nicht.
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