Herr Klingsor konnte ein bißchen zaubern.
Klingsor in diesem Augenblick leicht mit den Fingern geschnalzt und etwas gemurmelt. Denn plötzlich stieß der Löwe ein fürchterliches Gebrüll aus, tat einen Satz und stürzte sich, von der Tafel weg, auf den Herrn k. lc. Stadt- und Bezirksschulinspektor!
Na Mahlzeit!
Was für ein Glück, dass Herrn Klingsors Löwe bloß Mausezähne im Maul hatte und kein Raubtiergebiss! Sonst wäre es gewiss nicht nur um den Herrn k. k. Stadt- und Bezirksschulinspektor Tschörner geschehn gewesen, sondern vermutlich auch um Herrn Klingsor und seine Schulkinder.
Aber wir wissen es ja: Herr Klingsor konnte ein bisschen zaubern. Und bevor noch der Löwe rich-
tig heruntergesprungen war, hat er ihn schnell wieder an die Tafel zurückgezaubert. Das ist ganz schnell gegangen.
Allerdings hat der Herr k. k. Stadt- und Bezirksschulinspektor Tschörner den weiteren Verlauf der soeben erst begonnenen Lesestunde nicht abgewartet. Vielmehr hat er die Visitation vorzeitig abgebrochen. Und als ihm wenige Wochen später ein dienstliches Schreiben vorgelegt wurde, worin der Herr Lehrer Klingsor um seine Versetzung in einen anderen Schulbezirk ansuchte, da hat der Herr Tschörner dieses Gesuch so schnell und mit solchem Nachdruck befürwortet wie kein anderes je zuvor.
Blumen für Fräulein Kilian
An der Rudolfschule in Reichenberg hat damals eine ganz junge Lehrerin unterrichtet: das Fräulein Ernestine Kilian. Ich weiß nicht genau, welche Klasse sie hatte. Vermutlich sind es die großen Mädchen gewesen. Aber ich weiß etwas anderes. Ich weiß, dass das Fräulein Kilian nicht nur jung gewesen ist, sondern auch sehr, sehr hübsch. Meine Mutter hatte nämlich ein altes Foto von ihr.
Das Foto zeigte eine schlanke junge Dame mit schwarzem, über der Stirn gescheiteltem Haar und großen schwarzen Augen. Sie trug eine weiße hochgeschlossene Bluse, einen langen schmalen Rock und zierliche hohe Schnürstiefelchen, wie sie damals in Mode gewesen sind. Um Fräulein Kilians Lippen spielte ein leichtes Lächeln. Und in den
Augen hatte sie einen leichten Glanz, als sei sie gerade ein bisschen verliebt.
Neben dem Fräulein Kilian stand auf dem Fensterbrett eine Vase mit Blumen. Damals gab es noch keine farbigen Fotos. Wer jedoch genauer hinschaute, konnte trotzdem erkennen, dass es sich um einen Strauß von Studentennelken handelte.
Studentennelken sind Fräulein Kilians Lieblingsblumen gewesen. Und sie selber, das schöne Fräulein Ernestine mit dem schwarzen Haar und den
großen schwarzen Augen, war die Lieblingslehrerin ihrer Schulmädchen.
Auch der Herr Oberlehrer König und die andern Lehrer an der Rudolfschule fanden, dass das Fräulein Kilian eine besonders liebe und nette Kollegin sei - was nicht weiter verwunderlich war. Verwunderlich war es schon eher, dass auch das alte Fräulein Watznauer und das Handarbeitsfräulein der gleichen Meinung waren.
Am besten gefiel das Fräulein Ernestine Kilian dem Herrn Lehrer Klingsor. Sie gefiel ihm eigentlich von Tag zu Tag immer besser. Bis er sich schließlich eingestehen musste, dass er sich regelrecht in sie verliebt hatte.
Na wenn schon! Es ist ja die selbstverständlichste Sache der Welt, wenn sich ein junger Mann in ein schönes Fräulein verliebt - oder etwa nicht?
Gut und schön also, der Herr Klingsor hatte sich in das Fräulein Ernestine verliebt. Wenn er ihr auf der Treppe begegnete, grüßte er sie von jetzt an immer besonders höflich. Im Lehrerzimmer half er ihr mit einer Verbeugung aus dem Mantel. In den Schulpausen versuchte er regelmäßig mit ihr ins Gespräch zu kommen. Und bei den Proben des Reichenberger Lehrerinnen- und Lehrergesangs-Vereins blickte er neuerdings nicht mehr in die Noten: Er schaute bloß noch hinüber zum Fräulein Kilian. Aber natürlich so, dass es niemand merkte.
Eines Tages hatte Herr Klingsor zusammen mit Fräulein Kilian die Aufsicht während der Schulpause. Sie standen im ersten Stock auf dem Gang beisammen, unweit vom Herrn Schuldiener Büttner und seinem Würsteltopf. Sie sprachen von diesem, sie sprachen von jenem. Und ganz zufällig erfuhr der Herr Klingsor bei dieser Gelegenheit, welche Blumen seine Kollegin am liebsten von allen mochte - nämlich Studentennelken.
»Die mag ich wirklich!«, schwärmte das Fräulein Kilian. »Bloß schade, dass es sie nur im Sommer gibt ...«
»Hm-hm ...« Ganz plötzlich war dem Herrn Klingsor eine Idee gekommen. Wozu konnte er schließlich zaubern!
Am nächsten Morgen betrat das Fräulein Kilian die
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