Herr Klingsor konnte ein bißchen zaubern.
es war kein Irrtum, das Päckchen war wirklich für sie bestimmt. Und als sie es öffnete, stellte es sich heraus, dass es nichts als Briefe enthielt, lauter handgeschriebene Briefe: einen für Fräulein Watznauer - und für jedes einzelne Kind in der Klasse auch einen.
Ich denke mir, dass es nicht schwer zu erraten ist, wer sie geschrieben hatte, die vielen Briefe. Der Herr Klingsor natürlich!
Fräulein Watznauer ließ die Briefe verteilen. Jedes Kind bekam seinen eigenen Brief von Herrn Klingsor: einen, der sich von allen anderen unterschied. Und der Franzi Molnar bekam seinen Brief sogar auf Ungarisch.
Die Kinder lasen, was der Herr Klingsor ihnen geschrieben hatte, die Kinder freuten sich. Doch mit einem Mal klopfte das Fräulein Watznauer mit den Schlüsseln aufs Lehrerpult.
»So, Kinder - und nun wird es allmählich Zeit, dass wir etwas tun.« Fräulein Watznauer zog die rechte obere Schublade auf und ließ Schulaufgabenpapier verteilen, zwei Blätter an jedes Kind. Ach dü lieber Himmel! Das hätte es beim Herrn Klingsor gewiss nicht gegeben. Wollte sie etwa gleich in der ersten Stunde nach Weihnachten ein Diktat schreiben lassen?
»So«, sagte Fräulein Watznauer, als die Blätter verteilt waren. »Und nun gebt mal Acht!«
Sie ging zur Tafel, sie nahm die Kreide zur Hand. Und dann schrieb sie ein schwungvolles großes »L« an die Wandtafel.
»Nun? Was meint ihr wohl, was das gibt?«
Die Kinder errieten es nicht, es war ihnen nicht nach Rätselraten zumute im Augenblick.
»Na schön, dann gebt Acht ...« Und was schrieb Fräulein Watznauer jetzt an die Tafel? In ihrer makellos schönen Tafelschrift schrieb sie:
Sie hatte das Ausrufezeichen kaum gesetzt, da wussten die Kinder schon, was dies alles bedeuten sollte. Sie durften Herrn Klingsor schreiben! Jedes von ihnen durfte ihm einen Brief schreiben!
»Und danach«, sagte Fräulein Watznauer, »gehen wir miteinander zur Post, um die Briefe aufzugeben. Aber ich sage euch gleich, bei mir wird in Zweierreihe gegangen. Und, bitte, ohne dabei zu schwätzen.«
Wenn das kein guter Anfang war! Mit einem Mal waren alle Kinder davon überzeugt, es werde sich auch mit dem Fräulein Watznauer auskommen lassen.
Und was soll ich euch sagen? Sie haben mit ihrer Vermutung Recht behalten.
Fräulein Watznauer war nämlich eine gute Lehrerin. Und deshalb hat wohl auch sie sich ein wenig aufs Zaubern verstanden. Natürlich nicht ganz so gut, wie sich Herr Klingsor darauf verstanden hatte. Aber doch gut genug.
Denn jeder Lehrer, der wirklich ein guter Lehrer ist, muss wohl ein wenig zaubern können. Jeder auf seine Weise, der eine so und der andere so. Ich glaube, dass man das ruhig behaupten darf.
* * * * *
Otfried Preußler
Manchmal werde ich gefragt: Warum schreiben Sie eigentlich Kinderbücher, Herr Preußler?
Dann antworte ich ganz einfach: Weil es mir Spaß macht.
Und genau so viel Spaß, liebe Kinder, wie ich beim Schreiben habe, wünsche ich Euch beim Lesen!
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