Herr Klingsor konnte ein bißchen zaubern.
kennen sollen, das schöne alte böhmische Weihnachtslied! Er kannte es und das Mariechen Kleinwächter kannte es, aber die andern Kinder kannten es leider nicht.
»Dann wirst du es ihnen halt vorsingen müssen«, sagte Herr Klingsor, als ob es die selbstverständlichste Sache der Welt sei.
»Ich allein?«, fragte das Mariechen ängstlich. »Aber ich weiß nicht, bitte, ob ich das kann ...«
»Du kannst es, Mariechen«, sagte Herr Klingsor und setzte die Geige an.
Was nun geschah, hätte keines der Kinder für möglich gehalten: Das blasse Mariechen Kleinwächter schloss die Augen und fing zu singen an.
Ganz allein sang es, von Herrn Klingsor begleitet, das alte Weihnachtslied.
Von der zweiten Strophe an sangen die andern Kinder das immer wiederkehrende Halleluja mit. Und alle waren erstaunt darüber, wie schön und klar das Mariechen Kleinwächter singen konnte. Das hätte ihm niemand zugetraut, das Mariechen sich selbst vermutlich am allerwenigsten.
»Schön hast du das gesungen, Mariechen!«, sagte Herr Klingsor. Und das Mariechen war stolz und froh darüber, es hatte vor lauter Aufregung rote Backen bekommen.
Später verlor sich die Röte allmählich wieder -aber nicht ganz. Ein wenig davon blieb für immer zurück auf Mariechens Wangen. Das stand ihm sehr gut zu Gesicht, dem Mariechen Kleinwächter, das von jetzt an nie mehr das blasse Mariechen genannt wurde: Dazu bestand ja kein Grund mehr.
Die letzte Schulstunde vor den Weihnachtsferien war zu Ende, im Treppenhaus schwenkte der Herr Schuldiener Büttner die Glocke. Und nun hätte Herr Klingsor den Kindern eigentlich sagen müssen, dass er im neuen Jahr nicht mehr kommen würde ...
Warum er es ihnen schließlich doch nicht gesagt hat?
Er hat ihnen wohl die Weihnachtsfreude nicht trüben wollen. Nach den Ferien war es früh genug, wenn sie alles erfuhren. Also hat er ihnen nur frohe Feiertage gewünscht. Und zum Abschied hat er dann jedem Kind noch einzeln die Hand gegeben. Das war sonst nicht üblich.
Die siebenunddreißig Kinder der dritten Klasse haben sich nichts gedacht dabei, sie dachten an Weihnachten und ans Christkind.
Erst viel später, am Morgen des ersten Schultages nach den Weihnachtsferien, haben sie dann begriffen, weshalb ihnen der Herr Lehrer Klingsor am letzten Schultag des alten Jahres allen noch einmal die Hand gedrückt hatte.
Lieber Herr Klingsor!
Am Morgen des ersten Schultages nach den Weihnachtsferien waren die Kinder der dritten Klasse noch völlig ahnungslos. Draußen herrschte strenger Frost. Mit heißen roten Gesichtern saßen sie in den Schulbänken und warteten auf Herrn Klingsor. Im Treppenhaus läutete der Herr Schuldiener Büttner die erste Stunde ein.
Die Tür des Klassenzimmers wurde geöffnet -herein kam, zum großen Erstaunen der Kinder, das Fräulein Watznauer.
Fräulein Watznauer war eine ältere, etwas dickliche Dame mit streng in der Mitte gescheiteltem grauem Haar. Auf der Nase trug sie einen Zwicker und links von der Kinnspitze hatte sie eine große Warze.
»Grüß Gott, Kinder.« Fräulein Watznauer mus-terte die Klasse mit prüfendem Blick. »Warum starrt ihr mich denn so an?«
»Ist der Herr Lehrer Klingsor denn, bitte, krank?«, fragte die Steffi Austerlitz.
»Nein«, antwortete ihr das Fräulein Watznauer. »Er ist an eine kleine Schule im Erzgebirge versetzt worden. Von jetzt an bin ich eure Lehrerin.«
Die Kinder erschraken. Fräulein Watznauer war nämlich an der ganzen Rudolf schule dafür bekannt, dass sie besonders streng war und keinen Spaß verstand. Und ausgerechnet sie hatte nun die dritte Klasse übernommen! Das konnte ja gut werden.
Fräulein Watznauer thronte hinter dem Lehrerpult wie eine Königin. Eine Königin, die vergessen hatte ihre Krone aufzusetzen. »Merkt euch das eine, Kinder!«, sagte sie strengen Blickes. »Bei mir muss man aufrecht sitzen im Unterricht. Und ich mag es nicht, wenn man schwätzt. Außerdem ...«
Was sie außerdem sagen wollte, haben die Kinder der dritten Klasse nicht mehr erfahren. Denn gerade in diesem Augenblick klopfte es an die Klassentür.
»Ja, bitte?« Es war Fräulein Watznauers Stimme anzumerken, dass sie sich während des Unterrichts ungern stören ließ.
Der Herr Schuldiener Büttner trat ein. »Entschuldigen Sie die Störung, bittschön.« Er legte ein Päckchen aufs Lehrerpult. »Das ist, bittschön, für Sie mit der Post gekommen. «
»Für mich?«, fragte Fräulein Watznauer überrascht. »Das muss wohl ein Irrtum sein.«
Aber
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