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Herr Lehmann

Herr Lehmann

Titel: Herr Lehmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Regener
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überhaupt, wenn du mal nicht gerade am rumnerven bist?”
    “Ich arbeite auch für Erwin. Aber nicht hier. Im Einfall auf der Wiener
    “Straße, kennst du vielleicht.”
    Nein. Kenn ich nicht.”
    “Wie lange bist du schon in Berlin?”
    “Was geht’s dich an?”
    “Nur so …”
    “Wenn du’s genau wissen willst: seit einem Monat.”
    “Seit einem Monat?”
    “Na und? Irgendwas dabei?”
    “Nein, nein, schon gut. War nicht so gemeint. Ich bin seit 1980 in Berlin, das sind jetzt schon neun Jahre.”
    Na und? Und da soll ich jetzt Beifall klatschen, oder was?”
    “So war das nicht gemeint.”
    “Da ist man wohl ein ganz toller Hecht, wenn man hier schon neun Jahre wohnt, oder was? Ist mir schon aufgefallen, daß da einige ganz stolz drauf sind, wie lange sie schon in Berlin wohnen. Ist ja auch eine ganz tolle Leistung, hier zu wohnen. Tun ja bloß zwei Millionen Leute, hier wohnen. Ganz große Sache. Supertoll.”
    Das mein ich doch gar nicht.”
    “Ach nein, er meint das nicht so, ganz klasse.’ Ich wohn seit 1980 hier”, äffte sie ihn nach. “Gibt’s dafür auch irgendwie Schulterklappen oder so? IhrTypen seid doch sowieso nur alle wegen der Bundeswehr hier.”
    “Hallo, hallo, ich habe gesagt, ich hab das nicht so gemeint.” Warum, dachte Herr Lehmann, sind die Frauen, in die ich mich verliebe, immer so empfindlich?
    “Wie denn sonst?”
    “Naja, irgendwie … nur so eben, ich meine, ich wollte jedenfalls wohne ich schon lange nicht mehr in Bremen, hätte ja sonst sein können …”
    “Was?”
    ” Nix.”
    “Dann ist ja gut.”
    “Ja.”
    “Genau.”
    “Außerdem bin ich nicht wegen der Bundeswehr nach Berlin gekommen.”
    “Soso, toll.”
    “So schlau war ich nicht.”
    “Hätt ich auch nicht vermutet.”
    “Dann ist ja gut.”
    “Genau.”
    “Ja.”
    “Und was machst du da, in der Kneipe, wie heißt die noch mal?”
    “Einfall.”
    “Soso. Einfall, toller Name.”
    “Ich hab’s nicht erfunden.”
    “Und was machst du da?”
    “Na hinterm Tresen stehen natürlich.”
    “Und das findest du gut, oder was?”
    “Wie, gut finden?”
    “Na, ob du das gut findest eben. Hinterm Tresen stehen und die Leute abfüllen. Das ist doch kein Lebensinhalt!”
    “Moment mal”, sagte Herr Lehmann. “Was soll das heißen, Lebensinhalt? Lebensinhalt ist doch ein total schwachsinniger Begriff. Was willst du damit sagen, Lebensinhalt? Was ist der Inhalt eines Lebens? Ist das Leben ein Glas oder eine Flasche oder ein Eimer, irgendein Behälter, in den man was hineinfüllt, etwas hineinfüllen muß sogar, denn irgendwie scheint sich ja die ganze Welt einig zu sein, daß man so etwas wie einen Lebensinhalt unbedingt braucht. Ist das Leben so? Nur ein Behältnis für was anderes? Ein Faß vielleicht? Oder eine Kotztüte?”
    Sie starrte ihn verblüfft an.
    “Oder was? Ist das so?” setzte Herr Lehmann nach.
    “Was weiß ich, das sagt man halt so.”
    Das reicht jetzt, dachte Herr Lehmann, ich sollte damit aufhören. Ich überfahre sie, dachte er, das geht nicht gut. Lebensinhalt ist doch eine Scheißmetapher, das steht ja wohl mal fest”, fuhr er dennoch fort, “aber 
    selbst wenn man sie verwendet, was soll das denn dann sein? Gibt es irgendeinen, der mir das mal sagen kann? Kann ich jetzt zu einem von den Leuten hier an den Tisch gehen und ihn fragen: Entschuldigung, kannst du mir mal ein, zwei Lebensinhalte nennen? Nix! Nix! Aber alle glauben, es gibt so was. Und keiner denkt darüber nach. Wenn man von Lebensinhalt spricht, dann sieht man das Leben nur als Gefäß, als Mittel zum Zweck, in das es etwas hineinzufüllen gilt, statt daß man sich vielleicht mal darüber klar wird, daß das Leben einen Wert an sich hat, und daß man, wenn man sich dauernd damit beschäftigt, es mit Inhalt zu füllen, das vielleicht überhaupt nicht kapiert. Aber bleiben wir ruhig beim Bild des Lebens als Gefäß”, konnte er sich nicht bremsen. Ein Gefäß, in das man etwas hineinfüllen muß, kann es so lange nicht sein, wie mir keiner sagen kann, was genau dieses Hineinzufüllende eigentlich sein soll. Dann kann man es nur noch anders herum sehen, wenn man an der Metapher festhalten will: Dann ist das Leben ein Gefäß, das man gefüllt hingestellt bekommt, und zwar gefüllt mit Zeit. Und in diesem Gefäß ist ein Loch drin und die Zeit fließt unten raus, so ist das nämlich, wenn man überhaupt von einem Gefäß sprechen will. Und Zeit, das ist das Blöde daran, kann man nicht

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