Herr Lehmann
ist. Dann kam der nächste Bus, und er kam auch hinein, aber der Fahrer weigerte sich, ihm für einen 20-Mark-Schein einen KudammFahrschein zu geben.
“Dafür kriegen Sie bei mir nichts”, sagte der Fahrer. “Auf 20 Mark muß ich nicht herausgeben.”
“Das ist gutes Geld”, sagte Herr Lehmann. “Das sind 20 Mark der Deutschen Bundesbank.”
“Ich muß Ihnen darauf nicht herausgeben.”
“Wer sagt das?”
“Das sagen die Beförderungsbedingungen. Also Kleingeld oder raus.”
“Die Beförderungsbedingungen der BVG sagen aber auch, daß Sie mir, wenn Sie nicht rausgeben können, eine Quittung über den Restbetrag geben müssen, die ich am Kleistpark einlösen kann”, sagte Herr Lehmann, der einmal in einem Anfall akuter Langeweile im U-Bahnhof Möckernbrücke die Beförderungsbedingungen der BVG durchgelesen hatte.
“Dazu habe ich keine Zeit”, sagte der Fahrer. “Kleingeld oder wieder raus.”
“Sie verstoßen gegen Ihre eigenen Beförderungsbedingungen”, sagte Herr Lehmann.
Der Busfahrer stellte den Motor ab und verschränkte die Arme. “Ich habe Zeit. Wenn Sie nicht gleich weg sind, dann rufe ich die Polizei.”
“Eben haben Sie noch gesagt, Sie hätten keine Zeit. Was denn nun?”
“Raus, oder ich rufe die Polizei.”
Aus dem Bus kamen jetzt die ersten Beschwerden: “Schmeiß doch den Blödmann raus” und “Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.”
Das bringt jetzt nichts, dachte Herr Lehmann. Gegen Dummheit kommt man nicht an. Außerdem fiel ihm gerade rechtzeitig wieder ein, daß er bei der BVG noch immer Hausverbot hatte, da war es nicht ratsam, die Sache, in der er de jure dastand wie eine eins, bis zum Ende durchzufechten.
“Soll ich Ihnen mal sagen, was Sie sind?” rief er, als er draußen stand.
“Nein”, sagte der Fahrer, machte die Bustür zu und fuhr ab.
“Du Riesenarschloch!” schrie Herr Lehmann noch in das Zischen der Bustür hinein, aber das brachte nicht mehr viel.
Er hatte es ja geahnt. Er war noch nicht einmal richtig auf dem Kudamm, gerade mal am Wittenbergplatz, und die Scheiße ging schon los. Er spielte mit dem Gedanken, das Geld irgendwo zu wechseln oder die Linie 3 bis zur Uhlandstraße zu nehmen, aber dann schlug er sich das gleich wieder aus dem Kopf. Bei der BVG war heute, wie er fand, ganz gewaltig der Wurm drin. Es war fünf Minuten vor halb elf. Wenn ich jetzt zügig zu Fuß gehe, dachte er, kann ich immer noch rechtzeitig am Hotel sein. Gut, daß ich so früh dran bin, dachte Herr Lehmann und machte sich auf den Weg. Eigentlich hatte er gehofft, daß wenigstens die Anfahrt zu seinen Eltern einen entspannten Charakter haben würde. In seiner Vorstellung hatte er, sobald er zu früh am Hotel war, irgendwo in der Nähe noch einen Kaffee getrunken und war dann ganz lässig um Punkt elf Uhr in den Frühstücksraum des Hotels hineingeschneit, wo seine Eltern ihn schon sehnsüchtig erwarteten, denn zu früh war er auch nicht gerne, er wußte, wann man das Tempo rausnehmen mußte.
Aber er wußte auch, wann es Zeit war, Gas zu geben, und so hastete er jetzt den Tauenzien hinunter. Das war nicht leicht, es war im Grunde unmöglich, hier schneller voranzukommen als der Rest der Welt, der sich vollzählig, wie es Herrn Lehmann schien, auf dem Tauenzien versammelt hatte, um ihm mit seiner trantütigen Bummelei auf den Wecker zu gehen. Der Schweiß brach ihm aus, und er fluchte leise vor sich hin, als er zwischen seinen Mitmenschen hin- und herhüpfte, schlendernden Touristengruppen auswich, die glotzend und schwatzend und immer mindestens zu siebt nebeneinander die Straße versperrten, Rentnerinnen in Pelzmänteln umkurvte und in riesige, unberechenbare Gruppen Jugendlicher hineinstolperte, die plötzlich stehenblieben oder die Richtung wechselten, wenn er gerade versuchte, sie zu überholen. Solche Jugendliche gab es viele, und Herrn Lehmann fiel trotz aller Eile doch auf, daß die meisten eine Art sportlicher Einheitskleidung trugen, mit der Aufschrift “Deutsches Turnfest 1989 Berlin” auf dem Rücken, ein
Umstand, der seine Laune nicht gerade verbesserte. Wenn die so turnen, wie sie zu Fuß gehen, dachte er grimmig, dann gute Nacht, deutsches Turnfest, dann laß dich zuscheißen, deutscher Turnsport, dachte er, die fallen doch alle vom Stufenbarren, die können ja nicht einmal Bockspringen, die sind ja alle auf Pille, die sind ja gedopt, bloß falsch herum, dachte Herr Lehmann. Als er den Breitscheidplatz erreicht hatte, wo sich das ganze
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