Herr Lehmann
Kudamm-Gesummse aus “Touristen und Naziwitwen”, wie Herr Lehmann es in sich hineinmurmelnd nannte, mit den Junkies, die dort gerade Saison hatten, vermischte, war er schon komplett mit den Nerven fertig.
So geht das nicht, dachte Herr Lehmann, das muß aufhören. Ich muß
den Bus nehmen, dachte er, da wird man ja sonst zum Massenmörder. Er fand einen Kiosk, kaufte sich Zigaretten und rauchte erst einmal eine. Auf diese Weise hatte er Kleingeld und konnte außerdem, während er rauchte, was ihm schon nicht mehr so schwer von der Hand ging wie vor vier Wochen, als er bei Katrin damit angefangen hatte, in Ruhe an Katrin denken und daran, wie gut es doch trotz allem mit ihr war oder jedenfalls werden konnte oder was auch immer. Er hatte sie beim Weggehen geküßt, und sie hatte im Schlaf ein zufriedenes, grunzendes Geräusch von sich gegeben, als er das tat. Das hatte ihm Mut gemacht. Ein Kaffee wäre jetzt gut, dachte er, sah aber nirgendwo eine realistische Möglichkeit, schnell einen zu bekommen. Es war schon fünf nach halb elf, als er die Zigarette austrat, und er stellte sich am Breitscheidplatz an die Bushaltestelle. Diesmal ging beim Einsteigen alles glatt, und er bekam seinen Kudamm-Fahrschein.
“Der gilt aber nur bis Adenauerplatz”, konnte der Fahrer sich nicht verkneifen ihm hinterherzurufen.
“Ja, ja”, sagte Herr Lehmann grantig und ließ sich nicht provozieren, obwohl er gerne hinzugefügt hätte, daß das ein verdammter Etikettenschwindel war, denn der Kudamm ging nach dem Adenauerplatz natürlich noch weiter, und wieso hieß das Scheißding dann Kudamm-Ticket oder wie auch immer, das hätte er sagen können, aber das war ihm jetzt alles Wurst. Unten war der Bus proppenvoll, also ging Herr Lehmann nach oben, wo er gebückt laufen mußte auf der Suche nach einem freien Platz, den es aber nicht gab, und wo ihm überdies schlecht wurde von dem Geschaukel, denn der Bus war losgefahren. Herr Lehmann wußte, daß das Stehen auf dem Oberdeck nicht erlaubt war, deshalb ging er durch bis zur hinteren Treppe, die nach unten führte, auf der aber auch schon Leute standen. Herr Lehmann mußte oben in gebückter Haltung warten, bis der Bus an der Joachimsthaler Straße hielt und er endlich weiter nach unten gehen konnte, wobei er von den nachdrängelnden Leuten gleich mit nach draußen gespült wurde. Er wartete dort, bis alle ausgestiegen waren und ging dann wieder in den Bus hinein.
“Sie da, vorne wird eingestiegen”, kam eine Stimme aus dem Buslautsprecher. Herr Lehmann konnte es nicht fassen.
“Ich fahr nicht weiter”, tönte es aus dem Lautsprecher, “vorne wird eingestiegen.”
Herr Lehmann, dem jetzt alles egal war, stieg wieder aus, ging nach vorne und stellte sich an. Als er beim Einsteigen dem Fahrer sein Kudamm-Ticket zeigte, schüttelte der den Kopf.
“Der gilt nur einmal”, sagte er.
“Aber ich hab den doch eben bei Ihnen gekauft.”
“Weiß ich nicht.”
“Ich bin doch eben nur kurz ausgestiegen, um Platz zu machen. Ich bin doch hier in dem Bus gewesen, ich meine, ich hab den doch gerade eben bei Ihnen gekauft.”
“Kann ja jeder sagen. Eine Mark.”
Herrn Lehmann reichte es jetzt. Es müssen, dachte er grimmig, andere Saiten aufgezogen werden, jetzt, dachte er, wird klar Schiff gemacht, jetzt rappelt’s im Karton, tabula rasa, Schluß mit lustig. Er lächelte den Fahrer an und legte den Fahrschein auf die Kassierfläche.
“Hier, guter Mann”, sagte er.
“Was soll das denn jetzt?”
“Naja”, sagte Herr Lehmann liebenswürdig. “Ich habe keine Verwendung mehr für Ihren schönen Fahrschein. Wenn Sie den bitte entsorgen könnten. Und das macht dann noch mal eine Mark für einen neuen, nicht wahr?”
“Eine Mark”, nickte der Fahrer.
“Hier sind zwei, guter Mann”, sagte Herr Lehmann und legte ein Zwei-Mark-Stück auf den alten Fahrschein. “Nehmen Sie die und machen Sie sich einen schönen Tag damit.
“Nein”, wehrte er ab, Ihre Fahrscheinprodukte will ich nicht mehr, vielen Dank für Ihre Mühe.”
Damit stieg Herr Lehmann aus dem Bus. Er drehte sich noch einmal um und winkte dem Fahrer zu. “Die zwei Mark haben Sie mehr als verdient”, rief er herzlich. “Sie sind wirklich ein ganz großer Stratege. Nun fahren Sie schon, Sie haben doch nicht den ganzen Tag Zeit.”
Der Busfahrer schaute auf das Geld und auf Herrn Lehmann und suchte nach Worten. Das freute Herrn Lehmann. Er machte eine wegschickende Handbewegung. “Husch husch”, rief er und
Weitere Kostenlose Bücher