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Herr Lehmann

Herr Lehmann

Titel: Herr Lehmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Regener
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waren, und was Herr Lehmann fast noch schlimmer fand, als wenn gar nichts zwischen ihnen gelaufen wäre, denn wer, hatte Herr Lehmann kurz auf der Fahrt zwischen dem U-Bahnhof Görlitzer Bahnhof und dem U-Bahnhof Wittenbergplatz gedacht, verhungert schon gern bei vollem Kühlschrank? Aber dann hatte er dieses Bild gleich wieder verworfen, das ist unromantisch, hatte er gedacht, so darf man das nicht sehen, und dann hatte er sich wieder auf andere Dinge konzentrieren müssen.
    Denn auch sonst war alles seinen schlechten Gang gegangen. Er hatte zum Beispiel keine Zeit mehr gefunden, einen Fahrschein für die U-Bahn zu ziehen, weil die U-Bahn gerade in dem Moment gekommen war, als er den Görlitzer Bahnhof erreicht hatte, wodurch Herr Lehmann zum Schwarzfahren gezwungen war, was ihm überhaupt nicht gefiel, denn er hatte mit solchen Dingen kein Glück und schon eine kleine Vorstrafe wegen Beförderungserschleichung. Trotzdem hatte er die U-Bahn sofort nehmen müssen, denn es war wichtig, daß er nicht zu spät kam, nicht, weil das seinen Eltern etwas ausgemacht hätte, und natürlich hätte es ihnen etwas ausgemacht, sondern weil er nie zu spät kam. Er haßte es zu spät zu kommen, er haßte es mehr als schwarzfahren, und er haßte es auch mehr, als wenn andere Leute zu spät kamen, was ihm eigentlich überhaupt nichts ausmachte, Hauptsache er selbst war pünktlich, und das war er immer. So hatte er also die U-Bahn sofort nehmen müssen, obwohl er eigentlich früh dran gewesen war, genaugenommen sogar zu früh, denn er hatte den Görlitzer Bahnhof um kurz vor zehn erreicht, und mit seinen Eltern war er um elf Uhr verabredet, das war jede Menge Zeit, um an den Kudamm zu kommen, selbst mit der Linie l, die seiner Meinung nach eine erbärmliche Bimmelbahn war, unerträglich langsam und vollgestopft mit Psychopathen und Schizos, die ihm, gerade heute, ausgerechnet auf dem Weg an den Kudamm und ausgerechnet, wenn er einen Kater hatte, unangenehm auf die Pelle krochen. Die Schwarzfahrerei machte ihn dabei sehr nervös, er hatte sich geschworen, sich nie, nie wieder von der BVG demütigen zu lassen, jenen Männern mit den schlechtsitzenden Uniformen und dem Hang zu unerträglichem Geschwätz, die immer wieder mal alle Bahnhofsausgänge blockierten oder sich durch vollgestopfte, schneckenhaft dahinschleichende U-Bahnen drängelten, um die Fahrscheine zu kontrollieren, und wenn er nicht die ebenso geschwätzigen, BZ-lesenden und unerträglich verpeilt fahrenden Taxifahrer noch mehr verabscheut hätte, dann hätte es ihm nichts ausgemacht, sich von dem ganzen BVG-Elend mit einer Taxifahrt freizukaufen.
    Als er endlich den Wittenbergplatz und damit, wie er fand, den Kudamm erreicht hatte, stieg er aus und sah zu, daß er so schnell wie möglich aus dem unterirdischen Gedränge heraus ans Licht kam, auch wenn es nur das des Wittenbergplatzes war, wo mit dem KaDeWe und allem anderen das ganze Elend schon begann, wo in der Ferne bereits das sinnlose Europa-Center und die noch schlimmere Gedächtniskirche und die Schuhgeschäfte, die Leiser und Stiller und so hießen, dräuten, wo die Kudamm-Katastrophe ihren Anfang nahm und wo bereits der Kudamm-Bus-Fahrschein für eine Mark zu haben war, den er sich kaufen wollte, um den Rest des Weges legal zurückzulegen. Er überquerte die Straße und stellte sich an die Bushaltestelle, wo ein ziemlicher Auflauf war, es war wie immer alles verstopft mit jenen Menschen, die es immer und gerade an Samstagen in großen Massen an den Kudamm zog und die dafür Herrn Lehmanns vollstes Unverständnis hatten.
    Es kam auch gleich ein Bus, der war ziemlich voll, und Herrn Lehmann graute schon vor der Fahrt in so einem vollen Bus, aber dazu kam es gar nicht, denn gerade, als er zusteigen wollte, winkte der Fahrer mit einer müden Herrenmenschengeste ab und schloß die Tür. Herr Lehmann schaute auf die nächstliegende öffentliche Uhr und sah, daß es zwanzig nach zehn war. Das geht ja noch, dachte er und wartete auf den nächsten Bus. Er mußte zum Kudamm Ecke Schlüterstraße, das ist nicht so weit, dachte er, das kann man zur Not auch noch zu Fuß laufen, und dieser Gedanke beruhigte ihn sehr. Glücklicherweise wußte er genau, wohin er mußte, er hatte sich mit Hilfe der gelben Seiten und eines Stadtplans über die Lage des Hotels seiner Eltern informiert, außerdem hatte er zur Sicherheit noch einmal im Hotel angerufen, denn man weiß ja nie, hatte er sich gedacht, der Kudamm ist so lang, wie er dumm

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