Herr Lehmann
Jürgen, Marko, Erwin und ein junger Spund, den er nicht kannte und der wohl Rudi sein mußte, um einen Tisch in der äußersten Ecke herumstanden. Mitten in der Kneipe saß Karl auf einem Stuhl, groß und massig, und Katrin sprach leise auf ihn ein, aber sie hielt dabei mehr als einen Meter Abstand, was irgendwie seltsam aussah. Um Karl herum waren die Tische und Stühle in alle Richtungen beiseite- und zusammengeschoben, so daß eine freie Fläche entstanden war mit ihm in der Mitte und Katrin am Rand.
“Siehst du, da kommt er schon”, sagte Katrin.
“Was ist denn hier los?” fragte Herr Lehmann unbestimmt in die Runde.
“Verena, die hinter dem Tresen stand, kämpfte mit den Tränen. “Das ist ganz schrecklich”, sagte sie, der ist ja gar nicht mehr bei sich.”
Herr Lehmann ging zu Karl und hockte sich neben ihn. “Hallo Alter”, sagte er und klopfte ihm auf die Schulter. “Was läuft denn so?”
Karl hob langsam den Kopf und sah ihn an. Sein Gesicht sah müde und eingefallen aus, so als ob jemand die Luft herausgelassen hatte. Nur seine Augen waren weit offen und glänzten.
“Frank”, sagte er. “Es ist das Wetter. Die machen mit dem Wetter, was sie wollen.”
“Wer macht was mit dem Wetter?”
“Das geht schon die ganze Zeit so”, rief Erwin von hinten.
“Halt doch mal die Klappe, Erwin. Was machen die mit dem Wetter?”
“In Kreuzberg”, sagte Karl, “scheint die Sonne länger.”
“Und darum geht es jetzt?” fragte Herr Lehmann vorsichtig.
“Du hast immer die falschen Bücher gelesen, Frank”, sagte Karl. “Ich würde gerne mal wieder Minigolf spielen.”
Herr Lehmann blickte ratlos zu den anderen hin, wobei er jeden Blickkontakt mit Katrin vermied. “Wie kommt ihr eigentlich alle hierher?” fragte er. Er fand es nicht gut, daß sie alle hier herumstanden und seinen besten Freund beglotzten wie einen Affen im Zoo.
“Vor ein paar Stunden war er noch ganz okay”, sagte Jürgen. “Ich meine, er hat die letzte Nacht durchgemacht, dann ist er heute morgen um fünf im Abfall aufgeschlagen, da war er noch ganz lustig, dann haben wir irgendwann zugemacht, und er wollte noch nicht nach Hause, da ist er mit uns frühstücken gegangen, ins Schwarze Cafe.”
“Ins Schwarze Cafe? Ihr seid zum Frühstücken extra ins Schwarze Cafe gefahren?”
“Ist doch egal, uns war halt danach. Da ging das auch noch mit ihm, da war er ganz still, nur ein bißchen hibbelig und so, naja, ein bißchen seltsames Zeug hat er schon geredet, aber was soll’s. Dann sind wir irgendwann nach Hause mit dem Taxi, und er wollte noch weitermachen, wir sind ihn kaum losgeworden. Ich meine, man muß ja auch mal schlafen.”
“Jedenfalls war er dann in der Markthalle”, fuhr Erwin die Erzählung ” fort, da wollten die ihm eigentlich schon nichts mehr geben, ich meine, der wollte Whisky trinken und so, dabei war der doch schon völlig drüber.”
“Und dann hat er irgendwann bei mir an die Tür getreten und hat mich aufgeweckt und diese Scheiße erzählt. Was er dazwischen gemacht hat, wissen wir auch nicht”, sagte Jürgen.
“Und er hat die letzte Nacht durchgemacht?”
“Die davor, glaube ich, auch”, sagte Marko.
“Der ist ja total übergeschnappt”, sagte der junge Kerl, den Herr Lehmann nicht kannte. Herr Lehmann schaute ihm ins Gesicht. Er war höchstens 18 oder 19. “Wer bist du überhaupt?” fragte er. “Das ist Rudi”, sagte Erwin. “Der arbeitet jetzt auch hier.”
” Wenn ich deine Meinung hören will, Rudi”, sagte Herr Lehmann mühsam beherrscht, “dann frage ich dich. Bis dahin hältst du mal schön die Fresse.
“Kein Wort.”
“Na hör mal”, sagte Katrin.
“Halt du dich da raus. Der soll das Maul halten, der Spasti.”
“Jetzt fang du nicht auch noch so an”, sagte Erwin. “Das mit Karl war jetzt schon hart genug. Guck dir mal an, wie das hier aussieht.”
Herr Lehmann schaute sich um und sah erst jetzt die vielen Glasscherben auf dem Fußboden. “Sieht so aus, als ob Karl nicht gerade gut auf dich zu sprechen wäre, Erwin”, sagte er und schaute wieder seinen Freund an. Der hatte ihrer Unterhaltung aufmerksam zugehört und lächelte, aber es war kein schönes Lächeln, es paßte nicht in dieses müde Gesicht. “Erwin”, sagte er schnaufend, “ist ein alter Vogel.”
“Ja Karl.” Herr Lehmann stand auf. “Ich werd mal sehen, daß er sich hinlegt”, sagte er. Vor allem aber wollte er mit Karl hier raus. Er haßte es, wie sie ihn alle anschauten.
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