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Herr Merse bricht auf

Herr Merse bricht auf

Titel: Herr Merse bricht auf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Nohr
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seine Wanderungen zur Westerländer Bücherei. In jenem Sommer war aus unklaren Gründen sein Knie angeschwollen, es hatte zweimal in der Nordseeklinik punktiert werden müssen. Die ganze Zeit war es in einen festen Verband gewickelt, und er durfte nicht baden. Er spielte beim Strandkorb seiner Mutter, während Barbara mit dem Vater und den Ferienkindern tobte. Er ließ sich bedauern, genoss aber heimlich den Schutzraum, den ihm sein Knie verschafft hatte, und verzierte die » Burg« seiner Eltern mit Muschelgirlanden. Einmal hatte er mitbekommen, wie seine Mutter, die stundenlang im Strandkorb saß und strickte, von einem Kollegen des Vaters besucht wurde, einem schwarzbraun gebrannten, mächtigen Mann mit krauser Matte auf der Brust, wie Ingo sie noch nie gesehen hatte. Dieser Mann setzte sich neben die Mutter und fragte, ob sie sich nicht langweile, allein im Strandkorb. Sie hatte so einsilbig geantwortet, dass Ingo sich wunderte, und dann hatte sie die Augenbrauen hochgezogen und mit dem Kopf zu ihm gedeutet. Er war eine Belastung für sie, hatte er daraus geschlossen. Sie war seinetwegen an den Strandkorb gekettet. Herr Merse musste trocken schlucken bei dieser Erinnerung und trat heftig in die Pedalen. An dem Tag hatte er seinen ersten Gang allein nach Westerland in die Inselbücherei gemacht.
    Er radelte mit leisem Blechklappern den Weg entlang, der windgeschützt an neu erbauten Reetdachhäusern vorbeiführte, und reihte sich ein in den kontinuierlich fließenden Touristen-Fahrradstrom. Als die Häuser aufhörten, genoss er den Duft des Heidekrauts mit den schwarzblauen Beeren daran, die er als Kind gepflückt und in seinen kleinen Eimer getan hatte. Alles blühte: Holunderbüsche mit ihren weißen Tellern lockerten das Grün auf; einige Lupinen trugen zu ihren grünen Schoten an den Stängeln noch blaue und rote Blüten, und in großen Placken hatten sich Je-länger-je-lieber-Ranken ausgebreitet mit ihrem duftenden Gelb und Rostrot. Je-länger-je-lieber, dachte er. War das eine Eigenschaft? Oder ein Problem? Fast kollidierte er mit einem Mountainbikefahrer, der ihm auf der falschen Seite entgegenkam. In Storm-Verfassung: » Kein Klang der aufgeregten Zeit / Drang je in diese Einsamkeit«, kam man auf diesem Weg nicht. Storm und Brahms. Früher hatte er die beiden ähnlich gefunden, zwei wortkarge Einsilber mit gewaltigen Bärten. Auch Brustmatten? Brahms klang nach Weite und Storm nach Sturm. » Ich meint es will sich was verkünden / und kann den Weg zu mir nicht finden.« War das auch Storm? Von innen oder von außen verkünden, das war hier die Frage. Ein nebeneinander radelndes Ehepaar mit Kindern auf den Sitzen drängte ihn an die Seite. Verkünden? Heutzutage bekam man Handybotschaften. Er hatte ein Handy mit Cembaloton. Den Ton hatte Dagmar ihm eingerichtet. Laut Dagmar hatte er sein Instrument verfehlt und hätte, » rank und schlank«, Cembalist werden sollen: » Wie der Mann, so der Ton.« Während er selber mit dem Cembaloklang wenig anfangen konnte. Zu metallisch. Außerdem war er kein Mensch, der Töne mit Händen hervorbringen wollte. Sie waren ihm zu weit entfernt vom Innersten. Der Mund war über die Luftröhre dagegen direkt mit dem Atemzentrum verbunden. Dem Sonnengeflecht. Dem Herz. » …und kann den Weg zu mir nicht finden.« Eine Botschaft von innen, dachte er. Für die man aber kein Ohr hat. Weil es nach außen lauscht.
    Hinter ihm klingelte es. Ein junges Pärchen überholte ihn; der Junge sagte etwas zu dem Mädchen, und beide lachten. Sicher über den langen Mann auf dem Damenfahrrad, dachte Herr Merse und bewegte trotzig den Kopf. Die Kapuze flog nach hinten. » Kann den Weg zu mir nicht finden…« Wie ein Traum, den man vergisst. Seitdem er die Tabletten nahm, vergaß er alle Träume. Manchmal hielt er den Zipfel einer Traumerinnerung in der Hand, und wenn er sie näherziehen wollte, war sie weg.
    Der Regen ließ nach. Er fuhr auf die wuchtigen Apartmentbunker Westerlands zu und passierte die Nordseeklinik, die jetzt eine Rehaeinrichtung war. Er hatte damals » zum Trost für das Knie« von seinem Vater ein kleines Flugzeug aus Plastik geschenkt bekommen. Roter Plastikleib, gelbe, sich im Wind schnell und mit ratterndem Geräusch drehende Flügel. Er hatte wieder und wieder versucht, dieses Ratterdings steigen zu lassen. Gegen den Wind laufend und die Plastikschnur lose gebend, genau wie man ihm gesagt hatte. Der Vogel war aber immer wieder auf den Sand gefallen. Das Rattern war

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