Herr Merse bricht auf
drängend. » Komm doch mal, komm doch mal, schau doch mal, schau doch mal, guck doch mal, guck doch mal, was fängst du aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaan«, hatte Dagmar zu diesem Anfang geträllert. Sie hatte unzählige Variationen dieses blöden Verses erfunden: » Guck doch mal, guck doch mal, meiner ist lang«, oder: » Mutter kommt, Vater geht, Oma ist krank«, oder: » Peter nicht, Thomas nicht, keiner kommt ran.« Wie hatte er da überhaupt üben können? Zu dem göttlichen Thema der »Unvollendeten« sang Dagmar: » Ingo, wo gehste hin? Wo kommste her? Wann kommst wiedaaaa?« Wie hatte er es ÜBERHAUPT ausgehalten, wallte es plötzlich in ihm auf. Er ließ das Horn sinken. Wartete, bis das Gefühl abebbte. Dabei halfen die Tabletten. Das spürte er. Sie machten gleichgültig. Es wogte etwas durch ihn hindurch, und weg war es. Oder war er gleichmütig? Gleichmut sah er als Eigenschaft. Er würde ab jetzt seine Eigenschaften sammeln…
Es klingelte.
Herr Merse fuhr zusammen, ging zur Tür und öffnete. Vor ihm stand die ältere Frau aus der Wohnung über ihm. Frau Neudecker. Sie bat ihn, das Blasen– sie sprach tatsächlich von Blasen– auf später zu verlegen, sie seien gestern erst angereist, ihr Mann sei krank, und ob er denn wirklich auch im Urlaub blasen müsse? Herr Merse wandte vorsichtig ein, er sei gezwungen, wegen eines wichtigen Engagements ein gewisses Übepensum zu absolvieren (geschraubt ausgedrückt, dachte er). Und fragte vor Anspannung überhöflich, wann es denn passen würde. » Heute gar nicht«, sagte Frau Neudecker, » solange mein Mann krank ist, gar nicht.« Herr Merse fragte, was er denn habe. » Vegetative Dystonie.« » Oh.« » Das ist ein stressbedingter Erschöpfungszustand.« » Aber einmal am Tag muss ich üben«, beharrte Herr Merse, als ihm klar wurde, dass so ein Zustand von Dauer sein konnte. Blöde Schreckschraube, dachte er ärgerlich in das belehrende Gesicht Frau Neudeckers hinein. (Siehste, Dagmar, direkt und aufrecht. Beharrlich. Eine Eigenschaft.) Frau Neudecker schlug vor, sie würden ihm Bescheid geben, wenn sie Spaziergänge unternähmen. » Aber ich kann doch nicht immer abwarten, wann es Ihnen passt!« Nach langem Hin und Her (Beharrlichkeit!) kamen sie zu einem » Agreement«, wie sich Frau Neudecker ausdrückte. Morgens nicht vor halb zwölf; abends nicht nach sieben. Herr Merse versicherte, um sie loszuwerden, damit leben zu können (Konsensfähigkeit. Eigenschaft!). Er stimmte auch zu, am heutigen Tag noch nicht zu üben, um Herrn Neudecker erst mal » in Ruhe ankommen« zu lassen (Großzügigkeit).
Als Frau Neudecker das Zimmer verlassen hatte und er ihre harten, entschiedenen Schritte auf der Treppe hörte, flammte Wut auf, dass er sich in ein solches » Agreement« hatte hineinzwängen lassen; aber ganz unlieb war es ihm nicht. Er hatte immer ein mulmiges Gefühl beim Üben in fremder Umgebung, weil er befürchtete, andere damit zu stören.
Es war halb elf. Der Urlaub fing schlecht an. Nichts gelesen, kaum geübt. Aber gejoggt. Ein paar Eigenschaften gesammelt. Unablässig fiel Regen. Er beschloss, mit dem Rad nach Westerland zu fahren und dort die Inselbücherei aufzusuchen. Als Junge war er oft dahin gewandert, um sich mit Stoff gegen die Ferienlangeweile einzudecken. Er könnte sich jetzt ein Buch über Brahms ausleihen. Vielleicht käme das Gespräch während der Proben auf Biographisches, da wollte er sich nicht blamieren vor Yvonne. Und außerdem konnte er noch ein paar Krimis gebrauchen, wenn das Wetter so bleiben sollte. Und ein anderes gutes Buch, damit er dem » Mann ohne Eigenschaften« nicht so ausgeliefert war.
* * *
Der Westerland-Entschluss tat ihm gut. In Regensachen gehüllt verließ er das Haus und zog Oskars Fahrrad aus dem Unterstand. Der Hinterreifen war platt und blieb auch nach dem Aufpumpen schlaff. Dry Sack. Er pumpte Barbaras Reifen auf, die blieben prall. Er ärgerte sich, weil der Sattel zu niedrig war und das Schutzblech klapperte. In der Reparaturtasche fand er keinen Schraubenschlüssel. Gut, dann fuhr er eben auf einem klappernden, zu niedrigen Damenfahrrad. Ritter der traurigen Gestalt. Bitte.
Als Kind war er auf schmalen Sandwegen mitten durch Heideflächen gelaufen, rechts die hohe Dünenkette, links in einiger Entfernung die Straße. Mittlerweile war alles geteert. Seine Eltern waren mit Barbara und ihm jede Ferien auf Sylt gewesen, da sein Vater als Lehrer in dem Schullandheim Ferienkinder betreute. Mit neun begann Ingo
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