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Herr Merse bricht auf

Herr Merse bricht auf

Titel: Herr Merse bricht auf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Nohr
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dann schlagartig weg. Seine Mutter hatte ihn angewiesen, seine Flugversuche weiter entfernt von ihrer Sandburg anzustellen, es nerve. Er hatte aber Angst, sich weiter zu entfernen, weil er befürchtete, die Ferienkinder würden es ihm wegnehmen. So war es denn auch gekommen. Drei Jungs hatten es ihm aus den Händen gerissen und, als sie es auch nicht hochbekamen, an der total vertüdelten Leine hinter sich her durch das Wasser gezogen. Erst als sich Ingo weinend an seinen Vater wandte, ließen sie ab von diesem Spiel. Das Flugzeug lag als gestrandete, lahme Ente da, ein Flügel war herausgebrochen. Ingo hatte den Nachmittag hinter dem Strandkorb seiner Mutter damit verbracht, alles wieder zu richten. Er kriegte das Flugzeug tatsächlich repariert, sein Vater lobte ihn: » Der Junge hat Ausdauer« (Eigenschaft). Dann schauten ihm die Eltern zu, wie er versuchte, es zum Fliegen zu bringen, und das Unwahrscheinliche geschah: Er bekam das Flugzeug für kurze Zeit in die Luft, er gab mehr Leine, es flatterte und ratterte gelbrot über ihm…
    Herr Merse lächelte unwillkürlich und schaute über die Dünenkette, über der hier und da anmutig und still bunte Lenkdrachen schwebten.
    In der Inselbücherei fand er, was er wollte. Italienische Krimis, eine Theodor-Storm-Werkausgabe, das unvermeidliche Storm-Bartbild mit Pfeife auf dem Einband, und zu seinem Erstaunen zwei Bände über Brahms, einen Bildband und eine Biographie. Der Bildband überraschte Herrn Merse mit einem energischen Brahms-Foto, das den Komponisten als zirka Vierzigjährigen zeigte, bartlos; er hätte es niemals als Brahms-Porträt erkannt.
    Zufrieden mit seinen Funden setzte er sich in einem Bistro in die Sonne und lachte, als der Wind wenig später aus der Milchschaumhaube der bauchigen Tasse eine schräge Mütze formte. Ein kleines Kind mit einem Eisbecher vor sich am Nebentisch lachte nicht mit. Es betrachtete Herrn Merse mit Falten auf seiner Kinderstirn. Es sah so ernst aus, als wäre es mit den Falten schon geboren worden. Zu der Mutter gewendet, sagte es: » Unendlich ist, wenn viele Nullen da sind.« Die Mutter nickte, schabte ihre Cappuccinoreste zusammen und sagte dann: » Eine Null ist selbst unendlich. Sie fängt nicht an und hört nicht auf«, und malte dazu mit dem Zeigefinger eine Null in die Luft. Das Kind wiederholte unbeeindruckt Wort für Wort seine eigene Definition. Die Mutter stand auf und nahm das Kind an die Hand. » In sich selbst unendlich?«, fragte es und sah zur Mutter hoch. Beide Definitionen schienen sich hinter seiner faltigen Stirn zu der Vorstellung einer unendlichen Nullenvielfalt zu verbinden.
    * * *
    Der Nachmittag blieb sonnig. Herr Merse ging zu seinem Strandkorb, der nah am Kliff in einem Feld blau-weißer Körbe stand. Die Reduktion auf zwei Farben im Strandkorbwesen erinnerte ihn an Barbaras Go-Steine. Mühsam wuchtete Herr Merse sein Feriengehäuse in Richtung Sonne und Meer, damit er zwischen den anderen Körben hindurch auf das Wasser sehen konnte in der Illusion, das Meer für sich allein zu haben.
    1423 . Nach dem Eindruck, den das Kind mit seiner Unendlichkeitssphilosophie auf ihn gemacht hatte, wäre ihm ein Korb mit Nullen lieber gewesen. 1423 . 1 – das war er. Er war ja allein ( » single«). 4 – früher waren sie vier gewesen, zwei Kinder, zwei Eltern. 2 – Dagmar und er. 3 – außer Dreieinigkeit fiel ihm nichts ein. Merkwürdig. Was nun? Baden. Aber es war Ebbe. Herr Merse schaute auf den weiten Strand vor sich. Bei Ebbe durfte man nur auf eigene Gefahr baden, es konnte einen sonst hinausziehen. Er schaute auf die gelben Badewimpel, das Zeichen für: Achtung! Jetzt besser nicht baden! Eigentlich passte ihm das ganz gut. Er fühlte sich erschöpft. Er zog die Jeans aus, saß in T-Shirt und Boxershorts, die Dagmar noch für ihn ausgesucht hatte ( » Die stehen dir! Die unterteilen dich.«), jägergrün mit Stockenten darauf. Er hatte es nicht über sich gebracht, sie wegzuwerfen, obwohl er neutrale Unterwäsche bevorzugte, aber so war er eben, ein Je-länger-je-lieber, und jetzt war er zu erledigt, um in die Badehose zu wechseln. Er legte sich zurück, so dass sein Kopf im Schatten blieb, und wollte im Register der Brahms-Bände nach dem Stichwort » Horntrio« schauen ( » Hättste doch googeln können«, hörte er Dagmars Stimme. » Geht doch viel schneller.«)
    Er ließ das Buch sinken und starrte aufs Meer. Und wenn? Wenn es ihn hinauszöge? Drei gleich zwei plus eins: Dagmar und Andreas und

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