Herr Merse bricht auf
einer, der draußen bleibt. Er.
Ein paar Wochen nachdem er so vorauseilend und treudumm (Eigenschaften?!) ausgezogen war vor drei Jahren im Juni, war er abends spät in einem wütend-konfusen Drang zur Eppendorfer Wohnung geradelt. Er hatte sich, bevor er Dagmar wortlos beim Auszug seinen Schlüssel überreichte, einen Zweitschlüssel anfertigen lassen. Ohne klare Absicht. Er war eine Weile vor den dunklen Wohnungsfenstern auf und ab gegangen und hatte den Schlüssel in der Hosentasche gespürt. Dann leise die Klinke heruntergedrückt. Es war abgeschlossen. Sie waren also weg. Vorsichtig hatte er die Tür geöffnet. » Dagmar?«, rief es halblaut aus ihm in die dunkle Wohnung hinein. Keine Antwort. Sie war nicht da. Sie waren nicht da. Rechts ging die Küche ab. Er hatte das Licht angeknipst und hineingeschaut. Es war aufgeräumter als früher. Auf dem Tisch standen zwei halb leer getrunkene Kaffeetassen. Aha, sie hatten eine Kaffeemaschine angeschafft. Es waren zwei neue große Tassen, eine rot, die andere grün. Albern. Backbord und steuerbord. Die rote gehörte sicher Dagmar. Ihre Lieblingsfarbe war Rot. Er verließ die Küche und stand schon im Wohnzimmer, drehte den Dimmschalter rechts an der Wand und prallte dann vor dem riesigen Flügel zurück, der fast die Hälfte des Zimmers einnahm. Blüthner, las er. Ein alter Blüthner mit einigen blinden Lackstellen. Noten lagen darauf herum. Er rang nach Luft. Neben dem Flügel stand ein Notenständer, ebenfalls aus schwarzem Holz. Dagmar hatte früher nur den üblichen metallenen gehabt. Er schaute auf die aufgeschlagenen Noten. Eines der » Six épitaphes antiques« von Débussy. Er stöhnte auf: Mit Débussy hatte er sie kennengelernt, und jetzt spielte sie mit diesem Hänfling Débussy. Er drehte sich herum, wollte ins Schlafzimmer und traute sich nicht. Es stöhnte laut aus ihm heraus. Er musste etwas tun, musste. Er nahm die Flötennoten und zerriss sie in kleine Stücke, erstaunlich, wie fest Notenpapier war, trampelte und stampfte darauf herum. Dann raffte er mit fahrigen Bewegungen die vielen beschmutzten Papierfetzen zusammen, ging zur Küche und stopfte sie, soweit es ging, in die beiden Kaffeetassen. Die Kaffeereste wurden herausgedrückt, liefen an den Tassen herunter und bekleckerten den Tisch. Aber das reichte nicht, es reichte einfach nicht. Er nahm beide Kaffeetassen und ging damit ins Schlafzimmer. Das Bett war nicht zugedeckt. Es war zerwühlt. Er kannte die Bettwäsche. Sie hatten sie von Dagmars Mutter zur Hochzeit geschenkt bekommen, sehr gute Bettwäsche, satinartig hellbeige schimmernd. Er nahm die Tassen, kippte die bräunliche Notenmasse über die Kissen und wühlte dann mit seinen Händen die Fetzen überall hin, so weit es ging. Dabei stöhnte und schluchzte er laut, brach schließlich auf dem kleinen Flickenteppich vor dem Bett– war es noch Dagmars Seite?– zusammen und weinte haltlos, den Kopf auf das Bett gelegt. Danach war er erschöpft aufgestanden und hatte leer wie eine Null sein Werk betrachtet. Dann hatte er auf dem einen der beiden Nachttische Dagmars Tagebuch gesehen. Ohne Zögern hatte er es wie mechanisch an sich genommen und die Wohnung verlassen. Er radelte langsam zurück; als er über die Lombardbrücke fuhr, zog er den Schlüssel aus der Hosentasche und warf ihn in hohem Bogen in die Alster. Das Platschen, mit dem der Schlüssel die Wasseroberfläche zerriss, hatte sich in Herrn Merse als Schallerinnerung eingegraben.
Eine Möwe schrie. Man sah ihren weit geöffneten Schnabel. Oben am Kliff waren neuerdings Warnungen vor angriffslustigen Möwen angeschlagen, die den Menschen Eistüten und Fischbrötchen aus der Hand klauten. Schnell schaute er neben sich in den Picknickkorb, wo eine Streuselschnecke lag, und deckte sie mit dem Handtuch ab. Die Möwe schrie wieder. Er ballte die Faust und wünschte, er hätte Dagmars Tagebuch da. Das hätte er gern der Möwe in den aufgerissenen harten Schnabel hineingerammt. Herr Merse erschrak vor dieser plötzlichen Vision. Er schüttelte heftig den Kopf, goss sich aus der Thermoskanne einen Kaffee ein und biss entschlossen von der handtuchumhüllten Streuselschnecke ab. Das Abdriften musste bekämpft werden.
Er griff nach dem ersten Brahms-Buch mit dem Untertitel » Begegnung mit dem Menschen«. Als ob es einen Unterschied gab zwischen dem Musiker und dem Menschen Brahms. Er regte sich sofort auf ( » Reg dich ab!«). Das Stichwort »Horntrio« führte ihn zunächst an den
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