Herr Merse bricht auf
da mal was erlebt, und seither halte ich mich an die Badegebote.«
» Was erlebt?«, fragte sie interessiert und trat einen Schritt näher auf den Strandkorb zu. Sie wechselte dabei das Standbein. Sie hatte gerade, fast dünne Beine, links zeigte sich eine längliche, schmale weiße Narbe, die irgendwo unter dem Badeanzug begann und fast bis zum Knie hinunterreichte. Herr Merse nahm diese Einzelheiten beiläufig wahr und erzählte umständlich die Geschichte von einem Ferienkind, das heimwehkrank bei Ebbe hinausgeschwommen war. Nur durch einen Zufall hatte man es rechtzeitig genug vermisst. Vor Entkräftung war es nicht gegen den Sog angekommen und nur knapp dem Tod entkommen ( » ›entronnen‹ heißt das«). Er habe als Junge miterlebt, wie es graublau und leblos von den Rettungsschwimmern beatmet und bepumpt und bearbeitet worden sei– Herr Merse deutete die Bewegungen an– und wie es dann plötzlich unglaublich viel Wasser herausspuckte und nach Luft japste. Und sein Vater als der Transportleiter, wie es damals hieß, hatte die Verantwortung! Der Tod eines Ferienkindes! Herr Merse merkte, dass er den Satz im Tonfall seines Vaters sprach und bisher offenbar in der Vorstellung gelebt hatte, die Verantwortung für den Tod des Kindes sei schlimmer als dessen Tod selbst. Er kam ins Stocken. Die Unsicherheit, ob er aufstehen sollte, längst hätte aufstehen müssen, und ob er ihr anbieten sollte, sich zu ihm in den Strandkorb zu setzen, ja längst hätte anbieten müssen, peinigte ihn. Er schwieg, denn er wusste nicht, ob er es überhaupt wollte beziehungsweise ob er es denn wollen sollte und, viel wichtiger, ob sie es denn wollte…
» Oh, gut, dass Sie mir das erzählen«, sagte die Frau. » Einige baden nämlich.« Sie drehte sich zum Wasser hin und zeigte auf ferne Punkte im Wasser. Ihr Rücken war noch weiß. Herr Merse sah ihre Schulterblätter. Zart wie zwei große Schmetterlingsflügel, dachte er. Sie wandte sich wieder um. Herr Merse zwang sich, nicht auf die Narbe und damit auf die Beine zu starren.
» Wir sind zum ersten Mal hier. Ich werde gleich mit den Kindern sprechen. Ich dachte nicht, dass man die Badewimpel so ernst nehmen muss. Natascha badet sowieso nicht gern, aber Joel…« Sie ließ den Satz unbeendet; in der fragend nach oben gezogenen zweiten Silbe schwang etwas wie eine Unsicherheit oder wie ein leichter Schmerz mit. Für Herrn Merse flatterte das unsichtbare Satzende über den Strand wie ein langer schmaler Lenkdrachenwimpel.
» Oder würden Sie mir wohl den Gefallen tun, ihm diese Geschichte selbst zu erzählen?«, fragte die Frau. » Es wirkt dann mehr, als wenn ich es tue.« » Wieso?«, fragte Herr Merse ( » Mein Gott! Was geht dich das an!«).
Die Frau wendete sich ab, hob den Arm und winkte. Wohl zu den Kindern hin, dachte Herr Merse. » Ja, natürlich«, beeilte er sich zu sagen. Wieder stockte er. Jetzt musste er nach ihrer Strandkorbnummer fragen. Aber wäre es nicht zu aufdringlich? Wie eine Anmache? Gepresst schob er nach: » Ja, also ich komme einfach mal bei Ihnen am Strandkorb vorbei.« ( » Einfach mal. Na. Du und einfach!«)
» Schön«, sagte die Frau, » danke.« Sie lächelte ihn an und ging in die Richtung, in die sie gewunken hatte, davon.
Herr Merse starrte ihr nach, diesem Körper im lila Badeanzug. Das über ihre Schulter geworfene Handtuch pendelte leicht bei jedem Schritt. In den braunen Locken fing sich der Wind. Sie verschwand zwischen den Strandkörben jenseits des Treppenabgangs, tauchte klein wieder auf und war außer Sicht.
* * *
Das Innere von Herrn Merse, erst wie erstarrt unter dem Druck, sich angemessen zu verhalten, geriet durch eine Fülle querschießender, sich kreuzender und miteinander verschlingender Bilder, Eindrücke, Fragen, Gefühle, Gedanken und Impulse in strudelnde Bewegung. Was wollte sie? Wieso begrüßte sie ihn? War sie extra zu ihm hergekommen? Oder hatte sie ihn zufällig erblickt und spontan angesprochen? Aber warum? Was war das für eine Narbe? Wie würde es sich anfühlen, an diesem schlanken Bein mit der Hand hochzufahren bis…( » du bist verrückt«). Hatte sie ihn wirklich angelächelt? Wem hatte sie zugewunken? Wieso sollte er mit dem Jungen sprechen? Warum meinte sie, wenn sie es tue, wirke es nicht? Wieso, wieso, wieso sprach sie ihn überhaupt an? War er blöd, einfach sitzen zu bleiben? Herrgott, warum war er nicht aufgestanden! Schafskopf, der er war ( » Idiot!«).
Herr Merse sprang auf. Sie hat sich lustig
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