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Herr Merse bricht auf

Herr Merse bricht auf

Titel: Herr Merse bricht auf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Nohr
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Detmolder Hof, wo Brahms als junger unbekannter Mann, wie er las, auf Vermittlung von Clara Schumann im Herbst an dem Fürstenhof arbeitete. Aha. Seine Aufgaben waren: den privaten Gesangverein im Schloss leiten, was er gern tat, da er sich durch die Dirigiertätigkeit einen Zuwachs an Männlichkeit erhoffte, auf Hofkonzerten Solos spielen, was er hasste, da er schüchtern war, und der Prinzessin Klavierunterricht geben. Wie gern er das tat, blieb unerwähnt. Dass Brahms Dirigieren als männlichkeitsfördernd ansah! Ja, ganz offensichtlich hatte er die Männlichkeitsausstrahlung des Dirigenten Andreas auf Dagmar unterschätzt.
    Er las weiter. Die Autorin hob die strenge Etikette am Hof hervor. Der gehemmte Brahms sei doch immer mal angeeckt, vor allem was die Kleiderordnung betraf. Dies wurde von der Autorin mit viel Verständnis erwähnt. Herrn Merse kam sie wie eine ältere Tante von Brahms vor. Frei habe sich Brahms nur mit den Musikerfreunden gefühlt. Sie machten Kammermusik, tranken und erzählten sich Geschichten. Auch ein bekannter Bläser war dabei, der Hornist Cordes » mit dem berühmten weichen Ton«. Es blieb unklar, schrieb die Tante, ob Brahms durch ihn Anregungen zum viel später komponierten Horntrio bekommen habe. Hatte Brahms es nicht nach dem Tod seiner immer um ihn besorgten Mutter geschrieben?, dachte Herr Merse schläfrig. Der er als Junge Waldhorn vorgespielt hatte?
    Er ließ das Buch sinken. Detmold. Brahms war in Detmold gewesen wie er selbst. Die Hochschule hieß ja nach ihm. Brahms als Kommilitone– das wäre schön gewesen. In ihm schwappte eine fast erschreckende Sehnsucht hoch. Brahms fünfundzwanzig, er, Ingo, einundzwanzig. Bartlose junge Leute. Brahms blond und klein, schmächtig, weich, sanft, etwas durchscheinend. Ingo groß und dünn, auch blass, aber nicht so lichthaft. Ingo hätte bei dem erwähnten Hornisten Unterricht gehabt, und der hätte ihn zu Johannes mitgenommen. Sie hätten sich vielleicht morgens beim Joggen getroffen. Aber nein, Johannes ging lieber spazieren ( » walken«). Spazieren, Dagmar. Dabei komponierte er im Kopf. Später nannte er das Komponieren » Spazierengehen«. In Detmold, als junge Männer, da hätten sie sich jedenfalls angefreundet.
    Herr Merse schloss die Augen und stellte sich vor, wie er ihn auf seinem Zimmer besuchte. Er klopfte an, Johannes brummte » herein«. Er machte gerade Dirigierübungen vor dem Spiegel. » Wie sieht es aus?«, hätte er gefragt. » Männlich genug? Entschlossen? Klar?« Und er, Ingo, hätte ihn korrigiert: » Nee, zu fahrig. Nicht so ausladende Bewegungen. Nicht so rumrudern.« Johannes auf Platt: » Wat versteihst du vom Rudern?« Herr Merse lächelte glücklich vor sich hin. Über Frauen hätten sie reden können, abends spät, wenn die anderen gegangen waren. Brahms über Clara, er über Dagmar. Clara und Dagmar, beide mit den zwei a-Vokalen. Johannes hätte manches zurückgehalten, aber Ingo hätte beharrlich alles aus ihm herausgefragt. Mit roten Köpfen hätten sie im halbdunklen Zimmer gesessen. Von dem Wohnungseinbruch hätte Ingo Johannes aber nicht erzählt. Das gestohlene Tagebuch lag ungelesen in seinem Nachttisch in der Wurstbude. Dagmar hatte damals in keiner Weise reagiert auf den Einbruch. Komischerweise hatte er das auch nicht erwartet.
    » Hallo.«
    Herr Merse öffnete die Augen. Gegen die Sonne blinzelnd erkannte er in der dunklen schmalen Silhouette ein paar Meter entfernt vor ihm die Frau aus dem Zugabteil. Im ersten Moment kam ihm ihre Erscheinung wie eine Delial-Inkarnation vor. Die Frau trug einen lila Badeanzug, ein rotes Handtuch lag locker über die Schultern drapiert.
    » Oh, hallo«, haspelte er hervor bei dem Versuch einer ferienangemessenen Lockerheit. » Hat es Sie auch hierher verschlagen?« ( » Glückwunsch.« Dagmar mit ätzender Stimme im Kopf. » Da steht sie ja. Verschlagen!«)
    » Ja, da hinten ist unser Korb, wir haben unser Quartier hier in Wenningstedt«, antwortete sie einfach.
    » Ich auch. Ich bin immer in Wenningstedt«, sagte Herr Merse. Sollte er aufstehen, oder war solche Höflichkeit bei halb nackten Begegnungen mit unbekannten Frauen übertrieben förmlich? Er blieb sitzen.
    » Waren Sie schon im Wasser?«, fragte die Frau. » Nein, es ist ja noch Ebbe«, meinte Herr Merse. » Ach ja? Halten Sie sich streng daran?« » Ja, doch«, sagte er etwas verlegen ( » O Merse!«).
    Und dann sprach es schnell aus ihm weiter, ehe er etwas dagegen unternehmen konnte: » Ich hab

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