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Herr Merse bricht auf

Herr Merse bricht auf

Titel: Herr Merse bricht auf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Nohr
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der Stier sie mit seinem Tierschwanz auffüllte und dann schwängerte? Was für eine Geschichte! Herr Merse fühlte sich jäh abgestoßen. Der betrogene Stier tat ihm leid. Aber er hatte in seiner Gier auch nicht genau hingeguckt! Das Ergebnis dieser ungeheuerlichen Verbindung konnte ja nichts anderes sein als ein Ungeheuer, das in ein Labyrinth weggesperrt wurde und Menschen tötete; auch Jungfrauen wurden ihm gebracht, wer weiß, dachte Herr Merse, was er mit denen anstellte, bevor er sie tötete. In ihm stiegen Picasso-Bilder auf, auf denen sich der stierköpfige Minotaurus mit runden Nüstern über eine halb nackte Frau beugte ( » Runde Nüstern, ach, wie lüstern«, hörte er Dagmar gurren). Wie sollte er all das Joel erklären? Bei der Hartnäckigkeit des Jungen war unbedingt damit zu rechnen, dass Joel auf die Geschichte zurückkam. Beharrlichkeit auch bei ihm. Er spielte, nein: baute, allein. Joel war Baumeister Dädalus. Ingo Merse der Abstürzer, Ikarus mit dem Rattervogel.
    Herr Merse wanderte auf unsicheren Weinbeinen am Wasser entlang, nach rechts, weg vom 50er Feld. Besser Weinbein als Eisbein, dachte er und hasste sich. Dieses Dagmar-Gealbere. Ich bin sie, dachte er wieder. Mache alles wie sie. Und ich dachte, ich sei ich. Die Sonne sank ihm zu langsam. Er wünschte alle Menschen weg, die Spielenden, Badenden, Nackten, Verbrannten, Gebräunten, Dicken, Dünnen, Lesenden, Dösenden, Meckernden, Lachenden, Trinkenden, Buddelnden. Er wollte allein sein. Er beschloss, seinen Wecker auf vier Uhr morgens zu stellen und dann an den leeren Strand zu gehen. Noch vor dem späten Sonnenuntergang, den alle am Kliff abends wie sonst die »Tagesthemen« anschauten, ging er müde und dumpf nach Hause, dankbar für die Wirkung des Alkohols, nahm ohne zu zögern nur noch eine Tablette ein und legte sich ins Bett. Sein Kindergebet fiel ihm ein, wie er es mit Barbara immer zusammen gesprochen hatte. » Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen als Jesus allein.« Er änderte es ab und murmelte vor sich hin: » Bin nicht mehr klein, mein Herz ist nicht rein, ich bin traurig und allein, und jetzt kommt mein Schaf herein.« Er musste weinen, schluchzte wieder und wieder » und jetzt kommt mein Schaf herein«. Die Kopfstimmen mit » albern«, » Blödsinn« wurden stiller, und das Sprüchlein trug ihn unbemerkt über die Grenze.

Donnerstag
    Um vier Uhr weckte ihn das Piepen des Weckers. Er wollte sich umdrehen und weiterschlafen, musste aber aufs Klo und befürchtete, nein, war sich sicher, danach nicht wieder einschlafen zu können. Es war schon ziemlich hell. Er stieg in die Joggingkleidung und schlich sich aus dem Haus, um keinen zu stören. Draußen empfingen ihn Kühle und eine ungewohnte Stille. Was war anders? Der Wind fehlte. Legt der sich nachts?, dachte er. Erst als er ans Kliff kam, spürte er eine leichte Brise.
    Tatsächlich, er hatte den Strand für sich. Die Flut kam, aber mit wenig Brandung. Er lief zum schiefergrauen Wasser und wandte sich nach Norden, Richtung Kampen. Von rechts musste gleich die Sonne kommen. Er lief langsam. Ziemlich lahm. Es war der dritte Joggingtag, er hatte gelesen, dass Sportler am dritten Trainingstag jeden Muskel fühlen. Am ersten hat man Muskelkater, am zweiten denkt man, man ist schon fit, und am dritten Tag ist man bleiern. » Bleiente, Bleiente, Bleiente!« Er hörte Dagmar und dachte voll Hass und Selbsthass an die Stockentenhose. Wenn man den e-Laut von » Bleiente« nicht hart mit einem Kehlkopfschluss begann und das t zu einem d entspannte, ergab sich das schwingende Wort »Bleiende«, in dessen Rhythmus es sich gut lief: Bleiende, Bleiende, bleiende, bleiende. Bleiende weinende Bleiente, bleiende weinende Bleiente…
    Herr Merse genoss es, allein vor sich hin zu laufen und laut zu blabbern, wie und was er wollte. Laut, leise. Das Ende vom Blei. Bleis Ende. Er blieb stehen und begann mit Streck- und Dehnübungen. Das vermied er sonst. Er bedauerte, dass er das Horn nicht mit an den Strand bringen konnte, aber Sand und Salz würden ihm schaden. Er hätte gern gegen das Meer angespielt. Er stellte sich hin und prustete sich aus. Wirbelte dabei die Arme durch die Luft. Sonnentanz. Ha. Die Sonne ging hinter ihm auf und ergoss sich rötlich auf das Meer vor ihm. Herr Merse machte Knie- und Rumpfbeugen, keuchte und gurgelte. Plötzlich hörte er aus einem Strandkorb Stimmen. Er drehte sich um. Drei junge Leute, die die Nacht durch am Strand geblieben waren,

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