Herr Merse bricht auf
hatte er in einem Bachmann-Gedicht gelesen. Diese Zeile hatte ihn mit Wucht getroffen. Bachmann war in ihrem Hotelzimmer in Rom verbrannt. Hatte geraucht, war eingeschlafen. War sie bereit gewesen? Schluss damit. Horn spielen wäre jetzt gut, dachte er, aber es war zu früh. Er fühlte sich schwach. Er legte sich hin, bis es sieben Uhr war und er Brötchen holen konnte, und las derweil im Brahms-Buch der netten Tante, um nicht an Joel und seine Mutter zu denken. Mein Tag beginnt mit sinnvoller Lektüre. Er beschloss, die Tablettendosis für heute doch beizubehalten.
Nach dem Frühstück und der Zeitungslektüre, bei der er abdriftete, war es immer noch zu früh zum Üben. Mit zwiespältigen Empfindungen nahm er » Der Mann ohne Eigenschaften« in die Hand. Die Orakelsprüche ( » Schlecht orakelt: abgetakelt!«) von gestern hatte er noch nicht verdaut, und schon mit der Wünschelrute nach einem neuen ausgehen? War das sinnvoll?
Er schwang das schwere Buch von links nach rechts und wieder zurück. Es glitt ihm aus der Hand und landete mit einem dumpfen Plumps auf dem Teppichboden. Es war auf den Buchrücken gefallen und lag aufgeschlagen da. Aha, das ist schon ein Orakel, dachte Herr Merse. Etwas gleitet mir aus der Hand. Etwas öffnet sich von selbst. Ich muss loslassen, dann ergibt sich etwas. Dieser Gedanke ermunterte ihn; er setzte sich in die Hocke und begann die aufgeschlagene Seite laut zu lesen.
So viel war ihm von seinem ursprünglichen Mißtrauen gegen Agathes Herkunft noch verblieben, daß er nicht die Geheimnisse des Kriegsministeriums vor ihr preisgeben wollte. Erst im Vorzimmer, wohin ihn Ulrich geleitete, klammerte er sich an dessen Arm fest, flüsterte lächelnd aus heiserem Hals: » Um Gottes willen, red doch nicht offenen Landesverrat!« und schärfte ihm ein, daß vor einem Dritten, und wenn das selbst die eigene Schwester wäre, kein Wort über die Ölfelder verlauten dürfe. » Schon gut«, versicherte Ulrich. » Aber es ist ja meine Zwillingsschwester.« » Auch vor einer Zwillingsschwester nicht!« beteuerte der General, dem schon die Schwester so unglaubwürdig vorgekommen war, daß ihn die Zwillingsschwester nicht mehr aus dem Konzept brachte. » Versprich es mir!« » Es nützt nichts«, steigerte sich Ulrich, » wenn du mir dieses Versprechen abnimmst, wir sind ja siamesische Zwillinge; verstehst du?«
Siamesische Zwillinge. Die Wünschelrute hatte ihm einen richtigen Schlag versetzt. Herr Merse schluckte. Dagmar und er waren siamesische Zwillinge gewesen! So ungleich sie auch aussahen. Nicht als Geschwister, sondern als Paar. Aber nicht sie war an ihm festgewachsen, sondern er an ihr. Er war ein einseitiger siamesischer Zwilling. Er war an ihrem Rücken festgewachsen, mit seiner ganzen Vorderseite, hatte sich mit seinen um sie geschlungenen langen Armen immer an ihr festgehalten, und sie hatte sich gehäutet. War aus seiner Dauerumarmung still und heimlich weggeschlüpft, bis er auf einmal gemerkt hatte: Er hielt nur noch die leere Hülle. Das Wegschlüpfen hatte sich über Jahre hingezogen. Herr Merse strich sich unvermittelt über Brust und Bauch. Die leere Dagmar-Hülle hing nicht mehr dran. Er hatte sie abgerissen. Nicht auf einmal, sondern immer ein Stückchen. Sein Körper war noch wund. Der Schwanz war frei geblieben, immerhin. Obwohl er damals immer in sie eindringen wollte, war sein Schwanz an der siamesischen Dauerumarmung nicht beteiligt gewesen. Merkwürdig. Daher aber auch unverletzt. Immerhin.
Dieser Ulrich erzählte also alles seiner Zwillingsschwester. Herr Merse beneidete ihn. Der große dicke General aus dem Kriegsministerium war an der Stelle machtlos. Gegen Ulrich und seine Schwester kam er nicht an. Gegen ihn und Barbara war der Vater auch nicht angekommen, wenn Barbara sich in seltenen Fällen entschied, mit ihm, Ingo, zusammenzuhalten. Barbara war ein siamesischer Wechselbalg, denn mal war sie mit dem Vater verbündet gegen ihn oder die Mutter, dann mit der Mutter gegen ihn oder den Vater. Sie war sehr geschickt. Wenn es Ölfelder gab– Barbara hätte davon gewusst und wäre auf der Gewinnerseite gewesen.
Herrn Merse fiel das Dirigentenspiel ein. Sie hatten als Kinder gern eine Oper auf der Terrasse aufgebaut, mit dem Orchestergraben im Staudenbeet vor der Terrasse, die einzelnen Instrumentengruppen, bestehend aus je ähnlichen Kuscheltieren, genau abgesetzt voneinander. Barbara spielte fast immer den Dirigenten, er gab den Orchesterwart und alle anderen.
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